SWR2 Wort zum Tag

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Da sitze ich auf denselben Stühlen, auf denen schon Meister Eckhart saß, in der wunderbaren Dominikanerkirche in Erfurt. Ein prickelndes Gefühl! Mehr als 700 Jahre liegen zwischen diesem Lebemeister von damals und meiner Wenigkeit  heute. Hier im Hochchor der Kirche hat er gebetet, hier im Kloster hat er geübt, wie Christsein geht. „Richte dein Augenmerk auf dich selbst, und wo du dich findest, da lass dich". So rät Bruder Eckhart seinen Mitbrüdern. „Fang zuerst bei dir selbst an und lass dich", so heißt es in den Lehrgesprächen, die er als Prior, als Klostervorsteher mit den Anfängern im Kloster führte. Diese „Reden der Unterscheidung" sind eine wahre Fundgrube von Anregungen.

Alles fängt für diesen Glaubenslehrer damit an, bei sich selbst einzukehren. Wir können uns gar nicht wichtig genug nehmen, meint er. Wohlgemerkt: Das ist keine Aufforderung, hemdsärmlich sich selber durchzusetzen, sozusagen  auf Teufel komm raus. Die Ansprache ist ja an werdende Mönche gerichtet, an Menschen also, die konsequent Christ sein und werden wollen. Nicht der Tanz ums goldene Ego steht da im Mittelpunkt, aber auch nicht jene angeblich fromme Selbstabwertung, die immer schon von Nächstenliebe spricht. Nein: Der erfahrene Glaubensbegleiter rät den jungen Leuten, sich selber wichtig zu nehmen: die eigene Sehnsucht, die eigenen Ängste, die eigenen Wünsche und Hoffnungen - und  darin den Lockruf Gottes zu entdecken. Der Rat von Meister Eckhart ist paradox: „Richte dein Augenmerk auf dich selbst  - und wo du dich findest, da lass dich", verlass dich - also: Nimm dich so wichtig, dass du dich nicht mehr wichtig nehmen musst; sei so selbstbewusst, dass du dich selbst loslassen kannst. Wir sagen ja auch; „Ich verlasse mich auf dich" - so wie ich einen Raum verlasse oder einen Ort, so mich selbst. Eckarts Lebenskunst zielt auf Vertrauen, auf Liebe, auf was denn sonst: Sie erwächst aus dem unglaublichen Vertrauen, dass Gott da ist, überall, auch in meinem Leben, hier und jetzt. Das macht frei, das macht selbstbewusst - und zugleich selbstlos.

Längst bin ich wieder in meiner Wohnung. Aber dass ich betend im Erfurter Chorgestühl saß, das vergesse ich nicht. Aus seinen Reden der Unterscheidung, die vor mir liegen, höre ich ihn selbst, den Lebe- und Lesemeister: „Richte dein Augenmerk auf dich selbst, und wo du dich findest, da verlass dich". -  auf  den Lockruf deines Lebens nämlich, auf Gott.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15163
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