SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Da steht sie. Vor meinem Küchenfenster auf der Straße. Sie wartet und wenn ein Auto kommt, springt sie vor und hält ihren Daumen raus. Ich kenne sie, sie wohnt in unserem Dorf und hin und wieder verpasst sie ihren Bus und wartet dann darauf, dass jemand sich erbarmt und sie mitnimmt.
In dem Dorf, aus dem ich komme, gab es auch so jemanden. Wir Kinder nannten ihn bloß den Dorfdepp. Im Sommer bespuckten wir ihn mit Kirschkernen, im Winter bewarfen wir ihn mit Schneebällen. Bis unsere Mütter das gesehen haben. Dann haben sie uns beiseite genommen und haben vom Krieg, von Unfällen und schwierigen Geburten, von Sauerstoffmangel erzählt. Sie haben unserem Dorfdeppen einen Namen gegeben: Harald. Uns Kindern kam er immer noch sonderbar und beängstigend vor, wir hatten viel zu große Angst davor, mit ihm zu reden, aber wir sahen ihn auf einmal mit anderen Augen. Besonders, als unsere Mütter einen Wintermantel über den Gartenzaun gehängt, Schuhe für Harald stillschweigend draußen hingestellt, ein Stück vom Kuchen für ihn abgeschnitten haben. Wir sahen auch, dass Harald immer mittags in irgendeinem Haus unseres Dorfes etwas zu essen bekam.
Heute ist das anders. Heute kümmert sich in der nächsten größeren Stadt die Diakonie oder die Caritas um solche Leute. Leute wie die Frau, die immer noch draußen steht und immer noch wartet, dass sie jemand mitnimmt. Und während ich so aus meinem Küchenfenster gucke und mit ihr warte, werde ich fast ein wenig sauer: Warum hält denn niemand für die Frau an? Nur weil sie behindert aussieht? Weil sie behindert ist?
Und ich denke mir: Was wäre unser Dorf ohne Menschen wie sie? Menschen, die uns erinnern an Gemeinschaft und Solidarität, an Nächstenliebe.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15092
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