SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Die alte Dame besuche ich schon seit Jahren. Sie ist fast blind. Und das von Kindheit an. Sie sieht hell und dunkel und ein paar Schemen. Mehr sieht sie nicht. Was sie aber nicht daran hindert, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Sie geht kegeln und manchmal einen trinken. Sie kennt tausend Leute und liebt es, durch die Stadt zu bummeln.
Wenn sie Hilfe braucht, dann fragt sie eben jemand. In diesem Fall steht sie vor den verschlossenen Türen eines Geschäftes. Sie ahnt, dass da ein Schild hängt. Aber das kann sie ja nicht lesen. Deswegen fragt sie jemanden, der nicht weit entfernt steht. Fragt, wann das Geschäft wieder geöffnet ist. Keine Antwort. Also fragt sie noch einmal. Und bekommt wieder keine Antwort. Achselzuckend tritt sie den Heimweg an. Mal wieder einer dieser unfreundlichen Zeitgenossen. Was soll man machen.
Zuhause erzählt sie die Geschichte ihrer Tochter. Und versteht erst gar nicht, warum die sich vor Lachen schüttelt. "Du hast einen Pappkameraden gefragt", bekommt sie schließlich zu hören. "Da steht ein Koch aus Pappe und den hast du gefragt. Kein Wunder, dass du keine Antwort bekommen hast." Und dann schütteln sich beide vor Lachen. Und ich schüttele mich auch vor Lachen, als die beiden mir diese Geschichte erzählen. Weil sie einfach witzig ist. Nichts sonst. Weder peinlich, noch bedrückend. Sondern einfach witzig.
Und deshalb erzähle ich Ihnen diese Geschichte. Als ein Beispiel dafür, wie viele Menschen mit ihrer Behinderung umgehen. Und sich wünschen, dass andere Menschen mit ihrer Behinderung umgehen. Dass die eben nicht verschämt die Augen niederschlagen oder in eine andere Richtung blicken oder voller Anteilnahme die Stimme senken. Sondern dass die eine Behinderung als das akzeptieren, was sie ist: Teil des Lebens. Ausgefülltes und erfülltes Leben. In dem es auch Lebendigkeit und Lachen, Leichtigkeit und Liebe gibt. Wie in jedem anderen Leben auch.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14945
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