SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Sie wirkt schon ein bisschen komisch, die Alte. Mit ihrer Strickweste voller Löcher und dem verrutschten Kopftuch und der rissigen Einkaufstasche. So steht sie neben mir an der Ampel und spricht mit sich selbst. Unermüdlich murmelt sie und wedelt mit einer Hand, als wolle sie ihre Worte damit unterstreichen.
Hinter mir zwei junge Mädchen. Mit der Grausamkeit der Jugend fangen sie an zu kichern und zu tuscheln: „Schau mal da, die alte Schachtel. Die hat wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank." Die alte Schachtel hört davon Gott sei Dank nichts. Weil sie viel zu sehr in ihrer eigenen Welt gefangen ist.
Ich aber denke an eine alte Schachtel. Die bei mir zu Hause auf dem Regal steht. Es ist eine alte Hutschachtel von meiner Großmutter. Fast ein Jahrhundert lang haben die Frauen meiner Familie darin alles aufbewahrt, was ihnen wertvoll war. Die Briefe meines Großvaters, als die Liebe noch jung war. Die Handschuhe, die meine Mutter zu ihrem ersten Ball tragen durfte. Das silberne Feuerzeug, das mir als Kind mein Vater geschenkt hat.
In dieser alten Schachtel, die durch die Berührung so vieler Hände vergilbt und verbeult ist, liegen so viele Geschichten. Geschichten von Liebe und Leben, von Trauer und Abschied. Von außen ist sie längst unansehnlich geworden, aber wen interessiert denn das?
Ich betrachte die alte Frau, die noch immer spricht und gestikuliert. Ja, denke ich, sie ist eine alte Schachtel. Angefüllt mit unzähligen Geschichten und lebendigen Erinnerungen. Auch sie hat längst ihren äußeren Glanz eingebüßt, ist vergilbt und verbeult durch die Jahre. Aber wen interessiert denn das, wenn man an das denkt, was in ihr steckt?
Unter uns leben viele alte Schachteln. Und irgendwann werde ich auch eine sein. Hoffentlich merkt dann einer, dass sich jenseits meines verblichenen Äußeren ein Schatz der Erinnerung befindet.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14942
weiterlesen...