SWR3 Gedanken

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„Der liebe Gott sieht alles." Oh je - armes Kind. Das Pausenbrot im Mülleimer. Die Fünf in Mathe. Der geklaute Radiergummi. Keiner hat's gesehen. Oder doch? Einer sieht alles, nämlich der liebe Gott. Und der wird es den Eltern erzählen. Obwohl er doch genauso gut hätte wegsehen können. Wenigstens dieses eine Mal. Na warte, bis ich erst erwachsen bin.Der liebe Gott sieht alles." Jetzt bin ich groß, und deine Zeit ist um, du lieber Gott. Bleib mir doch gestohlen, du lieber Gott. Jetzt entscheide ich, was du siehst oder nicht. Ich entscheide, ob es dich gibt oder nicht. Du lieber Gott, was geht dich denn mein Leben an? Hast du denn nichts anderes zu tun auf dieser Welt? Interessiert dich denn mein Leben wirklich so sehr? Und warum immer nur dann, wenn ich Fehler mache?
„Der liebe Gott sieht alles." Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Zweifel kommen mir. Siehst du auch die anderen? Wie die ihre Kinder anschreit. Wie der seine Frau verprügelt. Wie der die Leute über den Tisch zieht. Soso, der liebe Gott sieht alles. Siehst du das auch? Siehst du, wie viel Gemeinheit und Grausamkeit und Ungerechtigkeit tagtäglich unter den Menschen geschieht? Und wenn du es siehst: Warum tust du dann nichts? „Der liebe Gott sieht alles." Vielleicht tut er ja etwas. Er sieht alles und weint darüber. Weint über die kleinen Ängste und über die großen Schweinereien. Und am meisten weint er darüber, dass seine Menschen nicht begreifen, dass er weint. Dass sie Angst vor ihm haben, wo es um Kleinkram geht. Und dass sie keine Angst vor ihm haben, wo es um die Wurst geht.
Ein Kinderschreck wollte er niemals sein. Gerade das doch nicht. Eher einer, der den Durchblick hat. Der wirklich alles sieht. Die Gemeinheit und die Grausamkeit und die Ungerechtigkeit. Der all das sieht und darüber weint. Und in seinen Tränen soll sich die Welt verändern. Das verängstigte Kind soll lachen, und der große Schweinehund soll sich schämen. „Der liebe Gott sieht alles."

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