SWR2 Wort zum Tag

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Der Garten Eden, das Paradies - meine Mutter weiß genau, wo das liegt: 1055 Kilometer östlich von Bremen. Ostpreußen hieß es früher - meine Mutter  ist dort geboren, in Szillen, einem kleinen Dorf, nahe bei Tilsit. In gut 12 Stunden könnte sie theoretisch mit dem Auto dort sein. Aber das möchte sie nicht mehr. Dies Paradies ist für sie verloren, für immer.
Ich bin aufgewachsen mit Erzählungen von diesem irdischen Paradies: Erzählungen von eiskalten Wintern, in denen die Kinder kilometerweit auf dem zugefrorenen Haff Schlittschuhlaufen gelaufen sind. Und in denen man natürlich durch die tief verschneite Winterlandschaft mit Pferdeschlitten fuhr. Erzählungen von Sommern zwischen Getreidefeldern und einsamen Seen, in denen man baden konnte, einer Kindheit, wo man ohne Sattel auf dem Pferd über Felder reiten konnte und in der ein Auto eine Ausnahme war, Dorfteiche mit Enten dagegen die Regel.
Für meine Mutter - sie war damals 16 Jahre alt, war die Flucht aus Ostpreußen am Ende des 2. Weltkrieges wirklich eine Vertreibung aus dem Paradies. Nichts konnte ihr dieses Zuhause ersetzen. Sie träumte immer davon: Noch einmal die Wege gehen, die sie als Kind gegangen war. Noch einmal ihr Elternhaus besuchen. Noch einmal die Heimatluft atmen. Lange Zeit hat sie damit gehadert, dass sie ihre alte Heimat, ihr Paradies, nicht einmal besuchsweise wiedersehen konnte.
Als das dann nach Jahrzenten wieder möglich war, fuhr sie noch einmal wieder nach Ostpreußen. Aber dort, wo früher Häuser standen, wuchsen Bäume und Büsche, vieles war zerstört. Und andere Menschen hatten dort ein Zuhause gefunden. Ein verlorenes Paradies, eines, in das sie nicht mehr zurück will.
Im Paradies, heißt es in der Bibel, standen zwei Bäume: der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, und der Baum des Lebens. Von dem einen haben die Menschen gekostet, von dem anderen nicht. Seitdem ist ihr Leben mühselig, endlich und ihr Glück vergänglich. Auch jenseits von Eden gibt es Paradiese. Irdische Paradiese, bewacht von einem Engel, der hält kein Flammenschwert, dem genügt die Uhr in der Hand. Er lässt uns wissen: „Die Zeit ist vorbei. Wir können die Zeiger nicht zurückdrehen. Einmal und nie wieder."
Aus der Heimat wie aus dem Paradies vertrieben - viele Menschen haben das erfahren. Kann man damit überhaupt „fertig werden"? Fertig werden wohl niemals, aber ich bewundere meine Mutter, wenn sie mit Blick auf ihr irdisches Paradies sagt: „ Jetzt wohnen andere Menschen dort. Das ist für die jetzt ihre Heimat."

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