SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Zu den merkwürdigen, ja fast schon unheimlichen Erlebnissen in meiner Vikarszeit zählt der Besuch einer alten Dame. Ein paar Tage zuvor hatte ich ihren Mann beerdigt. Da war ich mir ganz sicher. Doch nun stand sie verstört in meinem Zimmer und erzählte mir: Gestern Abend habe ihr Mann leibhaftig vor ihr gesessen, auf dem Sofa. Sie hätten sich eine Weile unterhalten, eben so, wie sich ein Ehepaar nach fünfzig Ehejahren miteinander unterhält, nichts besonderes, aber doch sehr entspannt. Dann sei er verschwunden. Sie sei jetzt ganz verunsichert, ob sie an ihrem Verstand zweifeln müsse, denn sie wisse doch genau, dass wir ihren Mann beerdigt hätten. Er sei doch wirklich tot.
Ich weiß nicht mehr, was ich damals geantwortet habe. Ich erinnere mich nur daran, dass ich diesen Widerspruch spürte: Ich kann nicht bei einer Beerdigung sagen: Bei Gott ist alles möglich und das große Wunder der Auferstehung der Toten predigen. Und am nächsten Tag sagen: Da müssen Sie sich geirrt haben. Entweder tot im Grab, oder lebendig auf dem Sofa.
In der Bibel ist ja an einigen Stellen davon die Rede, dass die Grenze von Leben und Tod immer wieder überschritten wird - und zwar vom Tod zurück ins Leben. Der Prophet Elia macht einen toten Jungen wieder lebendig. Petrus, der Apostel, ein junges Mädchen. Die Wand zwischen Tod und Leben scheint einerseits undurchdringlich - andererseits aber doch auch wieder durchlässig.
Es gibt ja eine Menge Beruhigungsformeln und vernünftiger Erklärungen für das, was die alten Dame erlebt hat, die ihren verstorbenen Mann auf dem Sofa sitzen sah: ein sehr lebhafter Wunsch, und, wer weiß, vielleicht auch ein Glas Rotwein. Später begegnete er ihr nur noch in Träumen. Es sei, so sagte sie, jedes Mal ein sehr schönes Gefühl gewesen, ihn neben sich zu spüren, so, wie sie es fünfzig Jahre erlebt hatte. Überzeugend scheint mir darum, was Hans Carossa schrieb: „Wir sind die Friedhöfe unserer Toten. Alle unsere Toten, die wir auf dem Friedhof wähnen, sind doch in uns. Unsere Toten haben keine andere Zuflucht, keinen anderen Aufenthaltsort" als unser Herz und unsere Erinnerung. Und er fuhr fort: „Fast nie sind es die wichtigsten, bedeutendsten Worte, Gebärden und Taten, die uns wieder einfallen, wenn wir an sie denken, sondern meist nur ein einfaches Lächeln, eine Eigenheit, ein Wort." Carossa war überzeugt: Unser Leben ändert sich völlig mit dem Tage, wo wir anfangen, mit den Toten in uns zu verkehren. „Sie sind die wahren Reichtümer unseres Lebens." Seitdem gilt für mich: ich muss solche seltsamen Begegnungen nicht vernünftig erklären. Wenn es schön war, dann gilt doch einfach: Sie als Geschenk nehmen, als „Reichtum des Lebens".

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