SWR2 Wort zum Tag

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Der Prophet Ezechiel erzählt in der Bibel von einem Traum, der mir sehr gefällt. Darin wird er in den Jerusalemer Tempel geführt und sieht eine Quelle. Unter der Schwelle des Tempels strömt Wasser hervor, das später am Außentor hervorrieselt und ein Rinnsal bildet. Daraus wird langsam ein Fluss, der immer größer wird. An diesem Fluss wachsen Bäume, es gibt viele Fische im Fluss und viel Leben drum herum. Das Besondere daran: Der Fluss fließt ins Tote Meer und macht es „gesund", so dass wieder Tiere darin leben können. Und die Bäume am Ufer sind auch nicht gewöhnlich: die Blätter welken nie, und die Bäume tragen in jedem Monat frische Früchte. Die Früchte können die Menschen ernähren, die Blätter haben Heilkraft.
Mir gefällt dieses Bild der blühenden und der grünen Bäume, die voller Früchte am Flussufer stehen. Da steckt so viel Leben drin, so viel Frühling und Sommer, wie ich ihn mir jetzt auch langsam herbeisehne. So viel Leben, so viel Fülle wünsche ich mir überhaupt viel öfter. Meistens ist der Alltag doch eher das Gegenteil davon, eine Quelle, ein Fluss, der neue Lebenskraft schenkt, das wäre was.
Vielleicht ist es gut, das Bild vom Wasser im Tempel noch mal genauer anzuschauen. Das Wasser ist nicht auf Anhieb ein großer Strom. Wie jeder Fluss beginnt auch dieser ganz klein. Und erst am Ende seines Weges macht er das salzige Tote Meer gesund.  Zuerst ist da nur ein kleiner, aber überraschender Anfang: Das Wasser strömt unter der Tempelschwelle hervor, nicht gerade ein Ort, an dem man mit Wasser rechnen muss. Vielleicht gibt es in meinem Alltag auch solche kleinen überraschenden Lebensquellen? Die Blumen, die plötzlich an der Hecke blühen, obwohl ich da gestern noch gar nichts gesehen habe. Das Vogelgezwitscher, das ich wieder wahrnehme. Ein unerwartetes Lob für etwas, das mir gar nicht so besonders erschien.
Im Traum des Ezechiel läuft das Wasser später unten am Tempel herab und es rieselt an der Seite eines Tores hinunter. Das hat etwas Unbeobachtetes, Beiläufiges. Manchmal merke ich gar nicht, dass in meinem Alltagstrott schon so viel Leben ist. Zu sehen ist das oft erst im Rückblick: wenn die drei Menschen, die ich längst anrufen sollte, der Reihe nach bei mir vorbeischauen und wir dann von Angesicht zu Angesicht sprechen können. Wenn ich einen schweren Tag hatte, froh bin, dass er geschafft ist, und dann höre, dass jemand an mich gedacht hat.
Das volle Leben, das mir die Vision von Ezechiel schildert, ist nicht von heute auf morgen da. Das wächst nur sehr langsam. Ich möchte mich gern auf die Suche machen nach den kleinen Lebensquellen in meinem Alltag.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14908
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