SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell sich die Sicht aufs Leben verändern kann. Ich war kürzlich krank, wie so viele andere in den letzten Wochen auch. Und wieder fand ich es erstaunlich, wie schnell so ein Virusinfekt die Prioritäten verschieben kann.
Wenn es langsam beginnt, mit Halsweh und Gliederschmerzen, dann mache ich mir immer Sorgen: Ich kann doch jetzt nicht krank werden. Wer soll sich denn dann darum kümmern? Und das fertig machen? Und diesen Termin kann ich auf keinen Fall absagen. Und darauf haben sich die Kinder doch schon so lange gefreut. Wenn aber dann die Viren erst einmal so richtig in Fahrt sind, dann ist mir das alles meist ziemlich egal. Ich krächze meine Absagen ins Telefon und lasse mich erschöpft wieder ins Bett sinken. Die vielen Dinge, die vorher so dringlich und wichtig erschienen, sind dann plötzlich zweitrangig. Und meist kann sich eben doch jemand anders kümmern, wenn es sein muss. Oder es kann auf einmal doch warten.
Sicher: Es gibt - Gott sei Dank nur selten - Verpflichtungen und auch schöne Erlebnisse, die zu versäumen wirklich gravierend und schmerzlich ist. Auch auf lange Sicht. Welche das sind, wird eigentlich sofort klar, wenn so vieles andere zweitrangig wird.
Mir ist beim Nachdenken darüber ein Vers aus einem Kirchenlied eingefallen, das ich sehr mag. Es wird oft am Ende des Kirchenjahres gesungen, wenn es um Sterben, Tod und Ewigkeit geht. „Ewigkeit, in die Zeit leuchte hell hinein", hat die Verfasserin vor 130 Jahren gedichtet, „dass uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine".  Zugegeben, eine Krankheit ist kein helles Licht der Ewigkeit, sondern eine unangenehme Sache, selbst, wenn es sich nur um einen harmlosen Infekt handelt. Aber der Effekt ist derselbe: Wer krank ist, der merkt deutlicher, was eigentlich nur eine Kleinigkeit ist, auch wenn es sich vorher groß und wichtig gemacht hat macht: Zum Beispiel berufliche Aufgaben, bei denen ich mich für unverzichtbar hielt. Und die dann oft gut jemand anders übernehmen kann. Und was wirklich groß ist, auch wenn es vorher gar nicht so bedeutsam aussah: Zum Beispiel ein Familienfest, bei dem ich nur eine unter vielen Gästen gewesen wäre. Aber das so eben nur einmal stattfindet.
Deshalb ist eine Krankheit trotzdem kein heller Schein einer besseren Welt. Aber vielleicht doch auch manchmal ein kleines Lichtsignal aus der Ewigkeit - dass uns werde klein das Kleine und das Große groß erscheine. Vielleicht kann mich ja demnächst noch daran erinnern, wenn die Kleinigkeiten wieder anfangen, sich wichtig zu machen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14869
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