SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Beim Beten geschieht nie nichts, Beten bewegt die Welt.
Die Mutter eines Freundes ist eine alte Pfarrfrau. Sehr alt sogar, bald 97 Jahre. Ihr Kopf ist frisch, aber seit einem Sturz in diesem Jahr kann sie nur noch wenige Schritte laufen. Für einen Menschen, der immer für sich selbst gesorgt hat und um andere besorgt war, ist das nicht einfach. Was sie aber kann und eifrig tut, ist: beten. Sie betet für ihre Angehörigen, aber auch für Menschen in der weiten Welt, die sie gar nicht kennt, deren Schicksal sie aber berührt. Mein Freund meint: „Wenn mehr alte Menschen so handeln würden, dann wären sie selbst zufriedener und die Welt sähe besser aus. Das glaube ich auch! Das Geheimnis innerer Zufriedenheit liegt wohl darin, aus einem ständigen um-sich-selbst-und-die-eigenen-Probleme-Kreisen auszubrechen und andere Menschen in den Blick zu bekommen, zugleich das Gefühl zu haben, etwas aktiv beitragen zu können. Selbst krank im Bett liegend kann ein Mensch betend die Geschicke der Welt mitbewegen. Selbst wenn man nicht daran glaubt, dass man durch Beten Gott zum Handeln bringen kann: Das Gebet der alten Dame hat Auswirkungen! Wir Menschen sind ja zutiefst soziale Wesen, leben aus und durch Beziehungen, und diese Beziehungen gestaltet und lebt die alte Dame ganz aktiv, obwohl sie sich gerade noch nicht einmal mehr selbständig eine Tasse Kaffee kochen kann. Mir fällt auf, dass sie nicht nur an ihre nächsten Menschen denkt, sondern auch an die Notleidenden in der Welt. Ihr Blick ist und bleibt weit, obwohl sie ihr Haus nicht mehr verlassen kann.
An andere zu denken tut auch Menschen gut, die nicht an Gott glauben. Denn auch Atheisten können ja in die Falle tappen, sich nur noch für den eigenen Bauchnabel zu interessieren. Im Alter kann man mit dieser Haltung ganz einsam werden. Bei der alten Pfarrfrau klingelt ständig das Telefon, viele Menschen rufen an, erkundigen sich nach ihr und sie fragt nach Kindern und Enkeln, der letzten Operation und den Neuigkeiten aus dem Ort und diskutiert, welche Partei bei der nächsten Wahl in Frage kommt. Sie interessiert sich für die Menschen, die sie anrufen, und das tut denen wohl, sie denkt politisch, und das hält sie auch intellektuell wach. Sie lebt nur noch in ihren privaten Räumen und zieht sich doch nicht ins Private zurück.
Manchmal habe ich schon gedacht: Sie könnte auch mal mehr an sich denken und nicht nur an die anderen. Aber bei genauerem Nachdenken fällt mir auf: Gerade so, wie sie lebt, tut sie sehr viel für ihre sozialen Beziehungen. Und für die Beziehung zu Gott. Und für die Welt. Und auch für sich.

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