SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Barmherzigkeit mir selbst und anderen gegenüber fällt schwer, zugleich sehnen sich die meisten Menschen danach.
Manchmal träume ich, mitten am Tag. Das kann schon passieren, auch wenn man sich das Träumen eigentlich abgewöhnt hat. Ein bisschen Barmherzigkeit wäre schön, träume ich. Ein bisschen Barmherzigkeit. Das klingt warm und anders als die harte Realität. Wie schön wäre es, wenn ich mir selbst gegenüber barmherzig sein könnte. Wirklich barm-herzig. Das ist kein „Schwamm drüber", kein Laissez faire, sondern der liebevolle Blick, der versteht, ohne zu verurteilen, der warme Blick, der mich nicht auf das, was ich kann, festlegt, sondern das Gesamtpaket annimmt. Und weiß, dass dieses Gesamtpaket in die Welt gehört, eigentlich sogar in den Himmel. Denn wir sind doch alle Himmelsgeschöpfe und nicht dazu geboren, eingesperrt zu sein in das Gefängnis der Unbarmherzigkeit.
Ein bisschen Barmherzigkeit wäre schön, träume ich. Ich glaube, damit stehe ich nicht allein. Möglicherweise sehnen Sie sich auch danach. Weil diese Barmherzigkeit, das ist etwas ganz Kostbares, das kann man sich nicht erarbeiten, das muss man finden. Jesus erzählt von einer Frau, die eine wichtige Münze verliert und sucht und sucht, bis sie sie wiederfindet. Dann ruft sie ihre Nachbarschaft zusammen und feiert den kostbaren Fund.
Barmherzigkeit: Wenn es gut läuft, erfahren kleine Kinder das bei ihren Eltern. Die sie liebhaben, auch wenn sie nichts anderes können als schreien und lächeln und schlafen. Traumhaft schön wäre es, wenn einer käme und mich fände, mit einem Blick, der barmherzig ist und ins Herz trifft und mich kennt und liebt und weiß, was ich brauche, auch wenn ich kein knuddeliges Baby mehr bin, sondern ein mehr oder minder begabter erwachsener Mensch. Wie traumhaft wäre es wenn einer käme, der meine Hartherzigkeit mir selbst und anderen gegenüber und meine Trägheit und alle zugrunde gegangenen Illusionen kennt. Und alle Träume. Auch die zerstörten. Und meine Stärke kennt, die ja, ganz gemein, mir auch ein Bein stellen kann, wenn ich meine, ich könnt´s ganz allein, würde es alleine schaffen auf dieser Welt.
Vielleicht muss man älter werden und die eigenen Grenzen kennenlernen, schon einmal schmerzvoll gescheitert sein an der eigenen Unbarmherzigkeit, um von Barmherzigkeit zu träumen und von Menschen, die so mit einander umgehen. Alt genug, um von einem Gott zu träumen, der barmherzig ist mit mir und mir die Tür öffnet ins Land der Barmherzigkeit. Mir und Leuten, die ich mir nicht ausgesucht habe. Sie sind möglicherweise merkwürdig. Die Bibel nennt sie Pharisäer, Sünder, Zöllner, das sind Bilder für Menschen, die mir fremd sind. Sie kommen aus anderen Milieus, erzählen andere Geschichten, haben einen anderen Geschmack, sprechen ihre Sprache. Es sind Menschen, die anders sind als ich, anders sehnsüchtig, aber genauso träumend wie ich. Und - wer weiß, vielleicht schaut der eine oder andere von diesen Fremden mich dann so an, wie ich es mir erträume. Das wäre, wirklich, ein Grund zum Feiern.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14838
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