SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Wenn du mich anblickst, werd' ich schön, schön wie das Riedgras unterm Tau.
Wunderbar finde ich diese Worte von der chilenischen Dichterin Gabriela Mistral, beinahe wie ein Gebet. Schön werden im Blick der Liebe.
Dabei empfindet sich diese Frau gar nicht als schön. Sie schämt sich ihres „tristen Munds", ihrer „zerriss'nen Stimme", ihrer „rauhen Knie". Aber der Blick, der auf ihr ruht, verändert sie. Sie wirkt wie verwandelt, blüht auf, weilAugen der Liebe sie ansehen. Sie erkennt ihre Schönheit nicht, indem sie in den Spiegel sieht, sondern sie erkennt sich im Anderen, im Blick der Liebe. So kann sie bitten: Senk lange deinen Blick auf mich. Umhüll mich zärtlich durch dein Wort.
Was macht einen Menschen schön?
Schön werde ich, wenn ein Mensch das Geheimnisvolle in mir sieht, meine Einzigartigkeit erkennt, etwas in mir aufspürt und entdeckt, was anderen verborgen bleibt, was vielleicht nur die Augen der Liebe sehen können, weil sie tiefer sehen.
So weiß ich mich auch von Gott angesehen - unverwechselbar, so wie ich bin - mit meinen Zweifeln, meinen Ängsten, meiner Sehnsucht. Angesehen im Blick der Liebe, so dass ich unter diesem Blick zugleich auch geborgen bin. Ich kann auch für mich sagen: Wenn du mich anblickst, werd' ich schön.
Dieser Blick hat bergende Kraft.
Die Schauspielerin Hanna Schygulla hat einmal formuliert: „Ich schaue nicht mehr so viel in den Spiegel, denn die Augen, mit denen man sich selbst anschaut, sind nicht die Augen, in denen man am besten aufgehoben ist." Aufgehoben bin ich im Blick der Liebe. Dieser Blick verändert mich, so dass ich ein neues Verhältnis zu mir und auch zu anderen gewinne.
Wer mich so anschaut, sieht bewusst, so dass ich unter dem Blick des Anderen wie verwandelt ich selbst werde.
Bei Gabriela Mistral heißt es am Ende des Gedichts:
Die Nacht ist da. Aufs Riedgras fällt der Tau.
Senk lange deinen Blick auf mich.
Umhüll mich zärtlich durch dein Wort...
Die hier spricht, ruht nicht allein in sich: sie ist geborgen im Blick des Anderen.
Sie ist angesehen, erkennt sich als schön und weiß sich angenommen.
Geborgensein im Blick des Anderen, das bedeutet für mich behütet und bewahrt zu sein.

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