Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Es war an einem Tag wie heute. Ein 27. Januar. Es war kalt, draußen lag Schnee. An diesem 27. Januar 1945 haben Soldaten das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Bis heute ist dieser Ort in Polen ein Symbol für Tod und menschliche Grausamkeit. 1,5 Millionen Menschen, so schätzt man, kamen in Auschwitz durch das Nazi-Regime ums Leben. Juden,  Behinderte, politische Häftlinge, Sinti und Roma. Zur Erinnerung an sie steht heute Holocaust-Gedenktag im Kalender. Obwohl viele Ältere nichts mehr davon hören wollen und die Mehrheit der Jungen findet, das man sie nach 68 Jahren nicht mehr mit den Fehlern ihrer Großeltern belästigen soll. Wir leben in einer neuen Zeit, das stimmt. Aber das Böse im Menschen, das Bedürfnis mächtig und wichtig zu sein, das wird nie verschwinden. Wir können es höchstens in Schach halten. Erinnerungen helfen dabei. Erinnerungen an Fehler, die wir nicht wiederholen wollen und die Erinnerung an die guten Seiten im Menschen. Deswegen erzähle ich Ihnen heute eine Geschichte, die Mut macht. Obwohl sie in Auschwitz passiert ist.
Gisela war damals 18 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter ins Lager gekommen ist. Die beiden Frauen haben sich gegenseitig gestützt. Trotzdem ist Gisela immer mutloser geworden. Stundenlange Stehappelle, Schwerstarbeit, Hunger, Kälte und Schläge haben ihren Körper und ihren Willen geschwächt. In einem dieser dunklen Momente stand plötzlich eine deutsche Aufseherin vor ihr. Sie hat Gisela etwas zum Anziehen gebracht. Eine rosa Wolljacke! Ein Lichtblick. Gisela hat diese Jacke Tag und Nacht getragen. Obwohl sie schwer krank geworden ist, musste sie beim großen Evakuierungsmarsch zu Fuß mitgehen. Als sie partout nicht mehr weitergehen wollte, ist plötzlich ein junger, deutscher Soldat aufgetaucht. Er hat Giselas Mutter ins Gesicht gespuckt, sich später aber dafür entschuldigt. Und als er weg war, lag da plötzlich ein Brot. Gisela hat Auschwitz überlebt. Weil wenigstens zweimal das Mitgefühl und die Hilfsbereitschaft stärker waren als alle Ideologien und Vorschriften. Sogar größer als die Angst um das eigene Leben. Wir müssen uns nicht von dem Bösen in uns beherrschen lassen. Mir macht das Hoffnung.

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