SWR2 Wort zum Tag

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Sie erleben die Kirche als Heimat. Das sagt fast die Hälfte der über 3.000 Katholiken in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die in einer empirischen Untersuchung nach den Motiven befragt wurden, was sie an die Kirche bindet oder aber warum sie sich von ihr abwenden. Das heißt aber auch: mehr als die Hälfte erlebt diese Heimat in der Kirche nicht oder nicht mehr. Das trifft für diejenigen zu, die nie daran denken, aus der Kirche auszutreten, und ebenso für die deutlich kleinere Zahl derer, die dies ernsthaft erwägen. 
Es ist ein tief in den Menschen verankertes Bedürfnis, beheimatet zu sein. Viele leiden darunter, dass sie sich ungeborgen fühlen, ohne schützende Nähe. Heimat heißt: wo meine Wurzeln sind, wo ich hingehöre, wo ich mich sicher fühle. Heimat gibt Vertrauen, Heimatlosigkeit macht Angst. Wir sehen uns so vielen gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Prozessen ausgesetzt, die anonym und abweisend sind, die wir nicht überblicken und die uns doch existenziell betreffen. Gehört nicht auch die „transzendentale Obdachlosigkeit" dazu, von der der Philosoph Georg Lukács schon vor 100 Jahren gesprochen hat - verloren gegangenes Vertrauen, weil wir unter einem verschlossenen Himmel uns selbst überlassen sind? Wenigstens in der Kirche suchen deshalb viele Heimat und Geborgenheit.
Sich angenommen zu wissen in Freude und Hoffnung, in Trauer und Angst, das wünschen sich viele von ihrer Kirche. Dass ihnen das Evangelium so nahegebracht wird, dass sie in ihrem Glauben und in ihrem Leben gestärkt werden. Dass sie gestützt werden, wenn sie den Halt zu verlieren drohen. Worte und Lehren alleine reichen dafür nicht aus. Es bedarf dazu der mitmenschlichen Nähe. Nähe ist ein anderes Wort für Heimat. Beides gehört zu den Leitmotiven der genannten Untersuchung. 
Vielleicht hilft es, den Blick über den eigenen Kirchturm hinaus zu wagen; offen zu werden und zu lernen von dem, was bei Christen anderer Länder und Erdteile an Neuaufbrüchen, an Glaubensfreude, an unmittelbar gelebter Mitmenschlichkeit zu sehen ist. Ich hatte mehrfach Gelegenheit, in den jungen Kirchen anderer Länder zu sehen, wie lebendig kirchliches Leben sein kann, wo Christen in Basisgemeinden, in überschaubaren familiären Gemeinschaften, den Glauben und das Leben miteinander teilen. Und ich konnte erleben, wie ihr Glaube die Menschen menschlich sein lässt. Obwohl sie oft kaum auf Strukturen und Sicherheiten zurückgreifen können, wirken sie in ihre Gesellschaften hinein und lassen ihre Mitmenschen eine Nähe erfahren, die ihnen Halt gibt. 

Ich bin froh, dass mir dieser neue Blick auf die Kirche möglich geworden ist. Er bestärkt mich darin, dazu gehören zu wollen. Auch dies ist eine Erfahrung von Heimat.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14638
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