SWR2 Wort zum Tag

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1945. 17. Januar. Auschwitz-Birkenau. Die Rote Armee rückt heran. Der Krieg ist längst verloren. Aber in Auschwitz wird immer noch an der Tötungsmaschinerie festgehalten. Über eine Millionen Menschen sind hier getötet werden. Jetzt sind noch sechzigtausend übrig. Die Lager werden geräumt und die KZ-Häftlinge werden Richtung Westen getrieben. Manche zu Fuß, andere per Lastwagen oder Zug. Es geht Richtung Westen auf der Flucht vor den russischen Truppen. Todesmärsche hat man das später genannt. Nicht ohne Grund. Die meisten Häftlinge überleben die Strapazen nicht. Nach Tagen oder Wochen auf der Flucht sterben sie. Sie erfrieren, verhungern, werden erschossen. Auch für viele andere Vernichtungslager sind Todesmärsche belegt.

68 Jahre ist das her. Die meisten Menschen, die heute noch leben, haben das gar nicht mehr mit Bewusstsein erlebt. Kennen wie ich diesen furchtbaren Teil der deutschen Geschichte nur aus der Schule, von den Eltern oder Großeltern, aus Besuchen in Auschwitz oder anderen Vernichtungslagern.

An einem Tag wie heute wird mir noch einmal deutlich, dass es vor allem die ganz konkreten Geschichten sind, die mich beschämen, die mich nicht loslassen. Während ich in den ersten Januartagen an Schneeballschlacht denke, ein bisschen friere, wenn ich zu Fuß zum Einkaufen laufe, mich über ein paar nasse Tage ärgere, ging es zur gleichen Jahreszeit vor vielen Jahren anderen Menschen um das nackte Überleben. Die hatten keine warme Wohnung in Aussicht. Und keine Suppe auf dem Tisch. Konnten sich keinen Tee machen oder auch nur sich ins Bett kuscheln. Die rangen um ihr Leben.

Sich erinnern, nicht vergessen, das ist wenig - aber es ist das Mindeste, was ich tun kann.

Erinnere dich, diese Aufforderung kennt besonders der jüdische Glaube. Immer wieder im Alten Testament werden Menschen aufgefordert, sich zu erinnern. Und das hat der christliche Glauben weitergeführt. Auch hier steht die Erinnerung im Mittelpunkt. Immer geht es bei der Erinnerung darum, dass eine Verbindung zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit hergestellt wird. Weil das Leben sich in allen drei Zeiten ereignet. Sich an andere erinnern heißt dann auch, ihnen das Leben zuzusprechen. Sie lebendig werden zu lassen. Auch in ihren Todesmärschen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14580
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