SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Sich erinnern tut weh und tut gut. Sich erinnern schmerzt und heilt. Denn Erinnern bedeutet ja: wahrnehmen, was in uns vorgeht. Aufmerksam werden für ein Geschehen, in uns selbst.
Erinnern kann man sich überall. Aber in der Klinik, in der ich arbeite, gibt es einen Ort, der sich besonders dafür eignet: unsere Klinikkapelle, mit dem Kreuz und den Kerzen, dem Licht und der Stille. Immer wieder kommen Angehörige hierhin und erinnern sich: an die letzten Wochen und Tage, die sie mit dem Menschen, der ihnen lieb war, verbracht haben. An die Stunden, die sie an seinem Bett gesessen haben, an die Zeit, als sie noch gemeinsam gehofft haben. An die Zeit, als es auf einmal aus war mit der Hoffnung. Und sie erlebt haben, wie ein Mensch als Kranker sich verändert, einem fremd wird und schließlich nicht mehr zu erreichen war. Und schließlich konnten sie das Krankenhaus verlassen. Aber alleine. Nur noch in Erinnerung an jemanden, der ihnen nahe war. An seine Stimme, an seinen Blick, an das, was er gesagt hat, was sie gemeinsam miteinander erlebt haben.
Jeder von uns hat Erinnerungen. Jedem bedeuten sie etwas anderes, jeder geht ein wenig anders damit um. Denn Erinnerung ist vieles. Erinnerung ist ein Paradies, in das man flüchten kann, eine Oase in der Wüste des Vergessens: ein Ort, an dem es sich ungetrübt von der Gegenwart leben lässt, an dem vieles so schön und gut war, dass man es niemals freiwillig verlassen hätte.
Und darum ist Erinnerung auch eine eiternde Wunde. Etwas, was niemals wieder richtig heil werden will. Etwas, das immer schmerzt, wenn man daran rührt. Eine eiternde Wunde: denn im Rückblick, in der Erinnerung taucht ja auch auf, wo wir aneinander schuldig geworden sind, wo wir unsere Liebe vielleicht viel deutlicher hätten zeigen sollen. Wo wir uns immer wieder vorwerfen: was haben wir falsch gemacht? Wo uns nicht verziehen worden ist und wir nicht verzeihen können. Wo wir einfach einen Groll haben, der durch nichts besänftigt wird, nicht einmal durch die Zeit.
Wer sich erinnert, möchte etwas bewahren, das ihm wertvoll ist: weil es zu seinem eigenen Leben gehört hat, weil es etwas Einmaliges war, etwas Schönes oder Schmerzvolles.
Sich erinnern tut weh. Und tut gut. In der Kapelle mit dem Kreuz und den Kerzen, dem Licht und der Stille.  Hier kann man den Blick wechseln: fort von dem, was mit dem Leben verloren geht, hin zu dem, was im Leben gewonnen wurde.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14529
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