SWR2 Wort zum Tag

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Mein Vater regt sich darüber auf, dass der Aberglaube fröhliche Urständ feiert. In seinem Bekanntenkreis klopfen Leute auf Holz, wünschen sich toi toi toi und Hals und Beinbruch. Aberglaube erscheint gar im Gewand von mathematischer Gewissheit. Überall liest er es: Diese Mannschaft hat laut Statistik noch nie auswärts bei jenem Verein gewonnen, kann der Bann gebrochen werden? Mein Vater ist als alter Sportler empört. Fußball hat schließlich nichts mit Zauberei zu tun. Aus meiner Zeit am Theater kenne ich die Sitte des Toi Toi Toi. Das musste sein, vor jeder Vorstellung, und dabei über die linke Schulter spucken, jedenfalls angedeutet. Und wehe, der so Beglückwünschte bedankte sich dafür, das ging gar nicht! Am Theater mag es ja angehen, meint mein Vater, aber im normalen Alltag? Mit seinem Freund hat er überlegt, ob in diesen ganzen Zaubersprüchen und Wünschen auch ein sinnvoller Kern stecken könnte, ein Segenswunsch etwa. Das Winken beim Abschied erinnert die beiden an eine Segensgeste. Wir gehen gemeinsam auf Spurensuche. Sogar im scheinbar abergläubischen Hals- und Beinbruch steckt ein Segenswunsch: Hazloche u broche, kommt aus dem Jiddischen und bedeutet Glück und Segen. Hazloche u broche, was die des Jiddischen unkundigen Mitmenschen als Hals- und Beinbruch verballhornt haben. Oder guten Rutsch: Es ist gerade mal eine Woche her, dass sich die meisten von uns das gewünscht haben, ebenfalls ursprünglich ein jiddischer Segenswunsch. Eigentlich eine schöne Vorstellung, finde ich, dass unser Alltag voller unerkannter Segenswünsche ist, zusätzlich zu den guten Wünschen, die wir uns sowieso zusprechen. Wie wunderbar, dass wir uns mit jedem Winken Segen wünschen. Wirkt das, auch wenn ich es nicht weiß? Das klingt schon wieder abergläubisch, oder? Doch vielleicht bewahren diese Gesten und sogar der Aberglaube das Wissen darum, dass viele Dinge unbewusst funktionieren. Die moderne Psychologie bestätigt uns, dass gute Gedanken wirken, auch wenn wir sie nicht aussprechen - warum sollten dann nicht gute Gesten wirken, auch wenn wir sie nicht bewusst einsetzen. Und ich finde es aufregend, dass ich von Segensgesten quasi umhüllt bin, mit jedem Winken, mit jedem Neujahrswunsch, selbst mit einem toi toi toi. Da kann mir im Neuen Jahr doch gar nichts mehr passieren, oder? Statistisch gesehen... Ich sehe meinen Vater die Stirn runzeln. Nun, im Gegensatz zum statistisch verbrämten Aberglauben rechnet der Segenswunsch damit, dass nicht der Segnende, sondern Gott handelt, durch und mit dem Segen. Gott kann man nicht zwingen, den kann man nur bitten. Gut tut Segen trotzdem, oder gerade deshalb.

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