SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Wieder ist ein Jahr vorbei. Manche seufzen und denken: Eigentlich war nichts Besonderes. Es war wie all die anderen Jahre.
Aber könnte es nicht sein, dass ich vielleicht das Besondere einfach nur übersehen habe? Die schönen und kostbaren Momente in all dem Rennen und Sorgen.
Die Reporter der Zeitung „Washington Post" haben sich das auch gefragt und ein Experiment gemacht:
Vor sechs Jahren an einem kalten Wintermorgen zur Hauptverkehrszeit in der Hauptstadt Washington. Die Menschen waren auf dem Weg zur Arbeit. In einer U-Bahn-Station packte ein Mann mit Baseballmütze seine Violine aus und fing an, darauf zu spielen.
Drei Minuten hat es gedauert, bis der erste Passant den Geiger bemerkt hat. Für ein paar Sekunden hat er seinen Schritt verlangsamt. Dann aber ist er zügig weitergelaufen.
Kurz darauf hat eine Frau im Vorübergehen den ersten Dollar in den Hut des Musikers geworfen.
Ein paar Minuten später hat sich jemand an die Wand gelehnt, um zuzuhören. Ein Blick auf die Uhr aber hat ihn wenige Augenblicke später angetrieben weiterzugehen.
Die größte Aufmerksamkeit hat dem Geiger ein kleiner Junge geschenkt. Der etwa Dreijährige ist stehen geblieben und hat den Mann mit der Violine betrachtet. Doch seine Mutter hat ihn an der Hand weitergezogen. Im Gehen hat er noch mehrmals seinen Kopf zu dem Musiker umgedreht.
Fast eine dreiviertel Stunde hat der Geiger gespielt ohne Unterbrechung.  Hunderte sind in dieser Zeit an ihm vorbei geeilt. Nur sieben Personen sind stehen geblieben und haben ihm für einen kurzen Moment zugehört.
Vielleicht zwanzig haben eine Münze in den Hut geworfen. 32 Dollar sind am Ende zusammengekommen. Als der Geiger sein Spielen beendet hatte, hat kaum jemand davon Notiz genommen. Nur eine Frau hat Beifall geklatscht.
Der Mann mit der Violine war Joshua Bell, einer der besten Musiker der Welt. Er hat klassische Stücke gespielt von Johann Sebastian Bach und Franz Schubert. Die gehören zu den schwierigsten Musikstücken, die jemals komponiert wurden. Seine Violine war eine Stradivari. Sie hat einen Wert von dreieinhalb Millionen Dollar.
Zwei Tage zuvor hatte Joshua Bell vor einem ausverkauften Haus in Boston das gleiche Konzert gegeben. Die Karten dafür haben durchschnittlich einhundert Dollar gekostet.
Sein Auftritt in der U-Bahn war ein Experiment. Die Zeitung „Washington Post" wollte wissen: Können Menschen Schönheit wahrnehmen, wenn sie nicht damit rechnen, ihr zu begegnen?
Wir - Sie und ich - wären wahrscheinlich auch an dem Musiker vorbeigegangen. Sich in der Routine des Alltags von kostbaren Augenblicken berühren zu lassen, dafür fehlt meist die Muße.
Aber die Frage bleibt: Welche Schönheiten und wundervollen Dinge übersehen wir in unserem Leben?

Wir haben ja gerade ein großes Fest hinter uns. Weihnachten. Für viele eine ganz besondere Zeit: Haben Sie die schönen Momente noch vor Augen und im Kopf? Oder auch hier vor allem die Aufregung und die Unruhe?
Ich stelle mir vor: Auch für Maria und Josef damals am ersten Weihnachten ist der Alltag ganz schnell wieder gekommen.
Das Kind war geboren. Die Hirten sind wieder zurückgekehrt zu ihren Herden. Aber für die jungen Eltern war damit noch nicht vorbei und erledigt, was geschehen war.
Ein paar Tage später sind Maria und Josef mit dem Kind nach Jerusalem gegangen in den Tempel. Sie haben Gott gedankt für das Geschenk des neuen Lebens, dass alles gut gegangen war mit der Geburt.
Dabei ist ihnen - mitten in dem Gewusel und Gewühl von Menschen - Simeon begegnet, ein Mann, der schon viel erlebt hat. Er war alt und vom Leben gezeichnet.
Dieser alte Mann war fast jeden Tag im Tempel. Er hat die vielen Leute kaum noch wahrgenommen. Aber an diesem Tag ist sein Blick auf die junge Familie gefallen und auf das gerade mal ein paar Tage alte Kind.
Und da hat Simeon in seinem Herzen gespürt: „Das ist es. Mit so einem Kind fängt die Welt neu an. Mit diesem Kind fängt die Welt Gottes an. Dieses Kind wird uns den Weg zeigen, den wir gehen können."
Der alte Mann hat den kleinen Jesus auf seine Arme genommen und Gott gepriesen: „Nun kann ich in Frieden sterben, denn meine Augen haben den Heiland Gottes gesehen! Es ist wahr: Gott hat sein Volk nicht vergessen!"
Mich beeindruckt diese Szene im Tempel. Simeon mag zwar äußerlich alt und gebrechlich gewesen sein, aber innerlich war er ganz wach für den besonderen Augenblick. Er hat gesehen und entdeckt und verstanden.
Er ist nicht einfach vorüber gegangen an diesem Kind wie die vielen hundert anderen Besucher im Tempel. Er hat sich von diesem Kind berühren lassen und Trost gefunden.
Ich finde: Das ist ein ganz kostbarer Moment im Leben eines Menschen, wenn er entdeckt, was Gott ihm schenken will. Wenn er in Jesus den sehen kann, der sein Leben hell macht. Wenn er in dem Kind in der Krippe den Heiland der Welt erblicken kann.
Vielleicht kann ich mir heute Zeit nehmen und zurückblicken auf dieses Jahr und nach diesen besonderen Momenten Ausschau halten: Wo hat Gott mir Fingerzeige gegeben, dass er an mich denkt? Dass ich nicht vergessen bin?
Was habe ich in diesem Jahr übersehen? Wo bin ich vielleicht an Gott  vorbeigegangen, ohne es zu merken, weil ich zu beschäftigt war mit mir, mit meinen Sorgen, mit meinen Plänen. Weil meine Gedanken ganz woanders waren.
Diese letzten Tage des Jahres sind eine Einladung, aufmerksam zurückzuschauen und die besonderen und kostbaren Augenblicke wahrzunehmen. Ich glaube: Wir begegnen ihnen öfter, als wir denken.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14447
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