SWR2 Wort zum Tag

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„Liebeläutend zieht durch Kerzenhelle mild, wie Wälderduft, die Weihnachtszeit", schreibt der Seefahrer, Kabarettist und Schriftsteller Joachim Ringelnatz in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Es waren damals Jahre der Not und der politischen Unsicherheit. Vielen rutschte der Boden unter den Füssen davon.
Da war ihm, den ein Schriftstellerkollege einen „Seiltänzer auf hohem Turmseil" nannte, die Weihnachtszeit ein Anker im hektischen Weltgetriebe. Ein schlichtes Glück, nicht angreifbar und nicht käuflich. Eine Seligkeit, die schöne Blumen der Vergangenheit auf die Schwelle des Hauses streut.
Ich bewundere den leichten Ton dieses Gedichts, den Joachim Ringelnatz findet, die heitere Gangart, der die Gratwanderung gelingt zwischen nostalgischer Verklärung und einer Flucht in die Weihnachtsidylle. Da leuchtet etwas auf von einem Glanz, der ganz ohne Schweinwerfer und künstliche Beleuchtung auskommt.
„Hand schmiegt sich an Hand im engen Kreise", heißt es weiter, „und das alte Lied von Gott und Christ, bebt durch Seelen und verkündet leise, dass die kleinste Welt die größte ist."
Um zu sagen, was der innere Kern dieses Festes ist, braucht es keinen aufdringlichen Lichtzauber, der die stille Nacht bereits Wochen vorher lauthals ankündigt. Nur dieses leise Ahnen: Weihnachten - das könnte ganz anders sein.
Und natürlich einen wie Ringelnatz, der einen Blick hat für das Detail: Kerzenhelle, Blumen der Erinnerung, eine Hand, die die andere findet, das alte Lied von Gott und Christ, immer wieder neu gesungen und neu erlebt. Jemand, der davon überzeugt ist, „dass die kleinste Welt die größte ist".
Für mich spricht dieses kleine Gedicht einen großen Gedanken aus: dass Weihnachten unserer Welt ihr verlorenes Maß zurückgibt. Die üblichen Maßstäbe, nach denen Geltung bemessen und Anerkennung verteilt wird, werden mit diesem Fest verrückt.
Glanz und Gloria, die sonst den Mächtigen dieser Welt und ihren Inszenierungen zuteil werden, gelten jetzt einem schutzlosen Kind, hineingeboren in völlig unsichere Verhältnisse. Der Vater ist nicht der Vater. Die Mutter eine unerfahrene junge Frau.
Der maßlose organisatorische Aufwand, den der Kaiser zur Durchführung einer Volkszählung betreibt, überrollt ein Einzelschicksal wie das von Maria und Joseph. Da wo sie einen Platz für ihr Kind suchen, ist schon alles besetzt. Eine drangvolle Enge, die alle an den Rand drückt, die es nicht schaffen mitzuhalten im Wettlauf aller gegen alle.
Und doch kommt gerade unter diesen bescheidenen Bedingungen Gott zur Welt. Als hilfloses Kind, angewiesen auf die Zuwendung derer, die mit leuchtenden Augen um die Krippe herum stehen. Die in diesem Moment begreifen: hier wird der Welt und unserem Leben ein neues Maß gesetzt.
Frieden kann einkehren, wenn nicht mehr der eine den anderen überbieten muss. Wenn der Steigerungsmodus, wonach nur der Größere, am besten das Allergrößte zählt, abgeschaltet wird. Wenn Menschen im Angesicht dieses Kindes erkennen, „dass die kleinste Welt die größte ist."
So erinnert mich Weihnachten daran, dass Menschlichkeit das Maß ist, mit dem Gott rechnet. Und dort, wo das „alte Lied von Gott und Christ" neu angestimmt wird, da tritt tatsächlich unter dem Zuckerguss einer vermarkteten Weihnachtsidylle der wirkliche Glanz dieses Festes hervor.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie in den kommenden Tagen etwas davon erfahren.

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