SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Vor wenigen Wochen habe ich ein so genanntes Sterbehaus der Mutter-Teresa-Schwestern in der indischen Sechs-Millionen-Stadt Pune besucht. Dort habe ich unmittelbar erlebt, was Nächstenliebe, menschliche Zuwendung zu den Ärmsten der Armen bedeutet. Und ich habe zugleich einen neuen Blick dafür bekommen, wie Freiheit aussehen kann -  eine Freiheit, die es vielleicht überhaupt erst möglich macht, Nächstenliebe so vorbehaltlos zu leben.
Wir möchten mit den Armen und wie die Armen leben, betont Schwester Chris, die Oberin der „Missionarinnen der Nächstenliebe" in Pune. Sie hat selbst keinerlei persönlichen Besitz - außer zwei Saris. Einen trägt sie am Leib, der andere wird morgens gewaschen, damit er bis zum nächsten Tag trocken ist. Das Haus, in dem die sechs Schwestern und die zumeist behinderten Bewohnerinnen leben und in dem viele auch sterben, ist gepflegt und freundlich. Man spürt keinen Mangel. Die fast 100 Menschen müssen jeden Tag essen und trinken, sie brauchen Kleidung, und die Medikamente, die viele von ihnen benötigen, sind nicht billig. Wie geht das? Gezielt um Spenden zu bitten, sei ihnen nicht erlaubt, sagt Schwester Chris. Dennoch hätten sie genug für jeden Tag. Jemand bringt einen Sack Reis vorbei, ein anderer Gemüse oder Fisch und ein Dritter wieder etwas anderes. Zwei Ärzte arbeiten ehrenamtlich mit. Und immer wieder kommt unerwartet eine Geldspende. Aber nichts lässt sich voraus planen oder gar berechnen. 
Wie kann sie mit dieser Unsicherheit leben, wo sie doch für so viele Menschen Verantwortung trägt? Schwester Chris lacht und winkt zum Himmel: „Was wir brauchen, kommt von der göttlichen Vorsehung. Es fehlt uns an nichts." 
Das biblische Wort von den Vögeln des Himmels wird hier sehr anschaulich: Sie säen und ernten nicht und werden doch vom himmlischen Vater ernährt. Das Wort von den Lilien auf dem Feld, die nicht arbeiten und keine Kleider für sich weben, und die doch schöner gekleidet sind als der legendäre König Salomo in all seiner Pracht. Die quälenden und das Leben behindernden Sorgen um die Bedürfnisse des Alltags sind die Sache von Menschen ohne Gottvertrauen, sagt dieses Bibelwort. Gott weiß, was wir brauchen. Uns aber muss es darum gehen, zu suchen und sichtbar zu machen, was Gottes Liebe bedeutet. 
Ein anspruchsvolles Wort. Es lässt mich eine große Freiheit ahnen. 
Solche Freiheit, gegründet im Vertrauen auf Gott, durch nichts gebunden als durch die Liebe zu den Armen - ich habe sie bei den Mutter-Teresa-Schwestern in Pune erlebt - mit größter Hochachtung. Ich weiß, dass ich selbst nicht so leben kann. Aber ich nehme doch die Frage mit: Habe ich so viel Vertrauen, dass ich den Sorgen und Problemen des Alltags gelassen und mit dem richtigen Augenmaß begegnen kann? Bin ich so frei, dass ich sehe, was mich unnötig bindet und mich hindert zu leben?

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14387
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