SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Im Oktober war ich mit einer Gruppe in Indien. Besonders eindrucksvoll war für mich das unvoreingenommene Miteinander der Religionen. Trotz allem, was man gelegentlich von Übergriffen und Gewalt liest und hört: Indien ist ein sehr tolerantes Land, und die Christen in Indien suchen und leben in staunenswerter Offenheit den Dialog mit den Gläubigen der anderen Religionen. Und - das macht den Dialog glaubwürdig - sie sind für die Armen da, unabhängig von deren Religion. Jeder Mensch ist Schwester und Bruder, das Geheimnis Gottes ist in ihm gegenwärtig - das alleine zählt.  
In den Gottesdiensträumen von Ordensschwestern hängen links und rechts vom Kruzifix Buddha und Shiva, im Hinduglauben die höchste Manifestation des Göttlichen. Darunter liegen neben der Bibel der Koran und die Bhagavad Gita der Hindus. In vielen Konventen habe ich Poster gesehen, auf denen kreisförmig die Symbole der in Indien vertretenen Religionen angeordnet sind. „Unsere ewigen Kraftquellen" steht darüber, und genannt werden etwa die Selbsthingabe und die Vergebung im Christentum, die Überlebenskraft des Judentums, die Mitleidsfähigkeit des Buddhismus, der Geist universaler Verbundenheit im Hinduismus, die Gewaltlosigkeit des Jainismus und - ja, auch das - die Werte von Gleichheit und Frieden im Marxismus. Im Zentrum eine brennende Öllampe, umgeben von den Worten: „Getrennt fallen wir, vereint stehen wir." 
Diese Darstellung lässt eine bewundernswerte Grundhaltung erkennen: An erster Stelle steht nicht der Wahrheitsanspruch, mit dem sich Religionen von einander abgrenzen. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage: Worin bestehen die spirituelle Tiefe, die menschliche Kraft einer Religion? Was ist das Wertvollste in den jeweiligen Religionen, durch das sie gemeinsam zu einer humaneren Welt beitragen können? 
Es gibt keine Vielzahl von Wahrheiten, das habe ich von christlichen Ordensleuten in Indien gelernt; es gibt nur die eine Wahrheit des unfassbaren göttlichen Geheimnisses. Aber dazu haben die Menschen in den verschiedenen Kulturen und Religionen unterschiedliche Zugänge gefunden. Und auch das habe ich oft gehört: Je mehr ich in meinem eigenen Glauben nach diesem göttlichen Geheimnis suche, desto offener und freier kann ich dem Glauben anderer begegnen. Desto größer wird meine Achtung vor dem, was ihnen heilig ist. Nur so können sich Kräfte für eine menschlichere Welt entfalten. 
Auch eine andere Wandinschrift in einem indischen Schwesternkonvent ist mir in Erinnerung geblieben: „Ist Gott so klein, dass er von einer einzigen Religion besessen werden kann?"

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14287
weiterlesen...