SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Wertschätzung" - das ist eine der Erfahrungen, die ich von einer Indienreise im Oktober mitgenommen habe. Überall sind wir, fremde und unbekannte Menschen, mit großer Offenheit aufgenommen und angenommen worden. Am stärksten habe ich diese unmittelbare Herzlichkeit bei Menschen wahrgenommen, die zu den Ärmsten gehören. 
Unvergesslich ist für mich der Besuch in einem Dorf von so genannten Adivasi, von Ureinwohnern. Sie leben außerhalb der indischen Gesellschaft, als Kastenlose, als Unberührbare und Rechtlose. Sie sind Kleinbauern oder Tagelöhner oder ziehen mit ihren Familien außerhalb der Monsunzeit als Ziegelbrenner von Großbaustelle zu Großbaustelle am Rande der Millionenstädte. 
In dem kleinen Dorf, einige Kilometer abseits der Hauptverkehrsroute und nur über unbefestigte Straßen zu erreichen, wurden wir zu einem Gottesdienst erwartet. Als wir eintrafen, empfingen uns vor ihren Hütten in kleinen Gruppen die Frauen in farbenprächtigen Saris und - etwas mehr abseits - festlich gekleidete Männer. Wie überall umringten uns sofort Scharen von Kindern und wollten fotografiert werden. Und dazwischen Hunde, Ziegen, Schafe, Kühe. 
Den Gottesdienst haben wir auf dem Platz vor der kleinen Kirche gefeiert. Die Dorfbewohner lagerten auf Decken auf der Erde, für uns Gäste waren als Zeichen der Gastfreundschaft Stühle bereitgestellt worden. Dann begrüßten junge Frauen jeden von uns persönlich mit einer Segensgeste, malten uns einen Punkt auf die  Stirn, behängten uns mit Blumen. Und als wir uns einzeln mit Namen vorstellten, gab es herzlichen Beifall. 
Von der heimischen Sprache Maharati, in der der Gottesdienst gefeiert wurde, verstanden wir nichts. Aber ich glaube, wir alle spürten eine wortlose Verbundenheit. Die Dorfbewohner sangen wunderschöne, rhythmische Lieder, von einem Trommler begleitet. Am Schluss baten sie uns, ein deutsches Lied zu singen. Anschließend wurden wir mit einer süßen Reisspeise bewirtet, für jeden eine Schale voll. Später haben wir gehört, dass sie uns die doppelte Menge von dem angeboten haben, was sie selbst morgens zum Essen haben und was dann für den ganzen Tag reichen muss. 
Warum erzähle ich das? Weil es mich tief bewegt hat, wie diese Menschen uns in ihre Mitte hinein genommen haben - uns, die Weißen, die Fremden aus einem unbekannten Land. Wie sie uns sehr offen und zugleich mit Würde begegnet sind, Wir konnten uns auf einander einlassen, einander verstehen, ohne die Sprache der Anderen zu kennen. Ich habe erlebt, wie ethnische und soziale Unterschiede völlig in den Hintergrund treten, wenn Menschen einander unvoreingenommen wahrnehmen. Wenn an erster Stelle die Frage steht: „Wer bist Du?"

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14286
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