SWR2 Wort zum Tag

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Gebt den Menschen Würde, solange sie leben": Schwester Chris hat das gesagt, die 45-jährige Oberin eines „Mutter-Teresa-Heims" in der indischen Stadt Pune. Mit einer Gruppe war ich im Oktober dort. Besuch eines „Sterbehauses" der „Missionarinnen der Nächstenliebe", so stand es für diesen Tag auf dem Reiseprogramm.
Wie den Anderen in der Gruppe war auch mir etwas beklommen zumute, was mich dort erwarten würde. Umso überraschter war ich, viel eher ein Haus des Lebens als ein Sterbehaus anzutreffen. Im Hof des einfachen, freundlichen Gebäudes begrüßte uns eine fröhliche Schar jüngerer und älterer Frauen, die meisten mit geistiger oder körperlicher Behinderung. In der noch angenehmen Sonne des frühen Tags waren sie damit beschäftigt, Wäsche zu waschen, das Mittagessen vorzubereiten, oder sie schauten einfach einer älteren Ordensschwester beim Klöppeln zu. 
Nicht immer war ihr Leben so unbeschwert. Oft, so erzählt uns Schwester Chris, werden behinderte oder alte Menschen einfach auf der Straße ausgesetzt. Sie wissen nicht, wie sie an Trinkwasser oder etwas zu Essen kommen können; niemand kümmert sich um sie, wenn sie krank sind. Wenn die Schwestern erfahren, dass irgendwo jemand am Verdursten oder Verhungern ist, fahren sie los, bringen ihn in eine Klinik oder in eines ihrer Heime, sorgen für medizinische Betreuung, für regelmäßige Ernährung, für Pflege, Hygiene, Kleidung. Manche erholen sich. Manche gehen dann wieder fort - vielleicht nach Hause, vielleicht auch wieder auf die Straße. Viele kennen nicht einmal ihren Namen. Die meisten wissen nicht, woher sie kommen und wo sie  hingehören. Sie bleiben hier. 85 Menschen kann dieses Heim, eines von dreien in Pune, aufnehmen. „Ein Tropfen im Ozean" sei dies, sagt Schwester Chris. Aber es ist ein starkes Zeichen der Menschlichkeit in einer oft erbarmungslosen Umwelt. 
Auch das Sterben gehört zu diesem Haus, wir haben es selbst erlebt. Aber niemand stirbt hier alleine und vereinsamt. Wenn das Leben eines Menschen zu Ende geht, bleiben alle anderen aus seiner kleinen Wohngruppe bei ihm bis zum Schluss. Ein muslimisches Bestattungsunternehmen in der Nachbarschaft wäscht später die Toten, verbrennt sie und bestattet die Asche - unentgeltlich. Mehr an Ritual erlaubt der Staat nicht. Auch dies ist ein letzter Dienst an der Würde dieser Menschen. Ein Dienst über die Grenzen der Religionen hinweg. 
„Wir sind keine ‚die area', keine Todeszone", sagt Schwester Chris. Nein, hier erfahren Menschen, vielleicht zum allerersten Mal, was Leben bedeutet: ein Leben in Würde und Geborgenheit. „Gebt den Menschen Würde, solange sie leben." Das schließt auch ein Sterben in Würde und Geborgenheit ein.

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