SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Heute Morgen möchte ich Ihnen zunächst eine Geschichte erzählen. Sie handelt von Zwillingen, die im Mutterleib heran wuchsen: Ein Mädchen und ein Junge.
„Ist es nicht schön, dass wir leben?", fragte eines Tages das Mädchen. „Wunderschön", meinte der Junge und plantschte mit seinen Händchen durch das Fruchtwasser, so dass es kleine Wellen schlug.
„Ist dir schon aufgefallen, dass wir uns verändern und immer größer werden?", fragte der Junge. - „Ich glaube, das bedeutet, dass unser Aufenthalt in dieser Welt bald zu Ende sein wird", meinte das Mädchen.
„Wie meinst du das?", fragte der Junge, „Du glaubst doch nicht etwa an ein Leben nach der Geburt?"
„Doch, ich glaube daran", antwortete das Mädchen. „Ich meine: Unser Leben hier ist dazu gedacht, dass wir wachsen und uns auf das Leben nach der Geburt vorbereiten, damit wir stark genug sind für das, was uns dort erwartet."
„Blödsinn", erwiderte der Junge, „Warum machst du dir darüber Gedanken? Hier ist es doch schön. Es ist warm. Und wir haben alles, was wir brauchen.
Und außerdem haben schon viele diesen Mutterschoß verlassen. Keiner von ihnen ist zurückgekommen. Nein, ein Leben nach der Geburt gibt es nicht."
Das Mädchen gab nicht nach: „Ich meine, es muss mehr geben als diesen dunklen Ort. Es muss doch anderswo etwas geben, wo Licht ist und man sich frei bewegen kann. Vielleicht werden wir ja herumlaufen und mit dem Mund essen?"
„Herumlaufen. So ein Unsinn!", lachte der Junge, „Das geht doch gar nicht. Und mit dem Mund essen. So ein Quatsch! Es gibt doch die Nabelschnur. Die ernährt uns. Wie willst du mit der herumlaufen? Die ist doch viel zu kurz.
Ich sage dir: Wenn wir hier aus dieser schönen Welt im Bauch heraus müssen, dann ist alles aus. Wenn uns jemand die Nabelschnur durchschneidet, werden wir tot sein."
„Ich weiß ja auch nicht genau, wie das Leben nach der Geburt aussieht", sagte das Mädchen, „aber spürst du nicht auch ab und zu diesen Druck? Manchmal tut es richtig weh.
Ich glaube, dieses Wehtun bereitet uns auf einen anderen Ort vor, wo es viel schöner ist als hier, und wo wir unsere Mutter sehen werden von Angesicht zu Angesicht. Das wird bestimmt ganz aufregend sein."
„Mutter?", fragte der Junge spöttisch, „Du glaubst doch nicht etwa an die Mutter! Ich habe noch nie eine Mutter gesehen. Wo soll die denn sein?"
„Na hier, überall um uns herum. Wir sind in ihr und wir leben durch sie. Ohne sie könnten wir gar nicht sein. Manchmal, wenn du ganz still bist, kannst du sie singen hören, oder spüren, wenn sie unsere Welt streichelt."
„Ich glaub nur das, was ich seh", meinte der Junge trotzig.
Aber dann kam der Moment der Geburt. Die Zwillinge haben ihre Welt verlassen und die Augen geöffnet. Was sie da gesehen haben, hat ihre kühnsten Träume übertroffen.

Wie sieht das Leben nach der Geburt aus? Ein Kind im Mutterleib kann sich das nicht ausmalen.
Sie und ich, wir leben nach der Geburt. Und wir können uns nur schwer vorstellen, wie es nach dem Tod weitergehen soll. Jene Welt ist uns verschlossen.
Das spüren gerade heute viele, wenn sie auf den Friedhof gehen und an die Gräber ihrer Lieben. Mit dem Tod scheint alles vorbei. Wir stehen wie vor einer Mauer und können nicht drüber sehen.
Aber für uns Christen ist der Tod weniger das Ende als vielmehr der Beginn des neuen Lebens in Gottes Ewigkeit.
Zugegeben, der Gedanke klingt eigenartig, aber die Erde ist für uns nur ein vorüberge­hender Aufenthaltsort - extrem kurz ... verglichen mit dem, was uns danach erwartet. Das Beste kommt noch. Auf uns wartet die Ewigkeit.
Wie es dort sein wird in Gottes Ewigkeit? - Einer der ersten Christen, der Seher Jo­hannes, durfte einen Blick hinter die Mauer werfen.
Was er da gesehen hat, hat er aufgeschrieben. In der Bibel kann man es nachlesen:
Da wohnt Gott bei den Menschen. Und Gott wird alle ihre Tränenabwischen. Kein Leid wird mehr sein, kein Geschrei mehr, keine Schmerzen, kein Tod mehr. Gott hat alles neu gemacht.
Ich finde das traumhaft! Ein neues Leben, frei und unbeschwert und erfüllt nicht nur für einen Augenblick, nicht nur für einen kurzen Moment des Glücks, der mich abtauchen lässt in eine heile Welt, sondern glücklich und zufrieden und geborgen für immer, für die Ewigkeit.
Das ist Gottes neue Welt: Eine Stadt ohne Schmerzen, ohne Tränen, ohne Schreie. Traumhaft, was Johannes da gesehen hat.
Ein Bild spricht mich besonders an: Das weinende Gesicht. Ich denke an die Tränen von Menschen, die einen lieben Angehörigen verloren haben.
Oder mir kommen Gesichter in den Sinn von bedrängten Menschen - auf der Flucht, ohne Dach über dem Kopf, unschuldig in Gefängnissen sitzend. Weinende Kinder, die ihre Eltern im Krieg verloren haben.
Es gibt so viel Leid, das mir rätselhaft ist. Schicksale, die mitunter grausam sind. Tränen geweint, geschluchzt, oft heimlich. Sie sollen alle weggewischt werden.
Keinen Tränen mehr? - Ja, so hat es Johannes vernommen. Das Weinen wird aufhören. Es wird keinen Anlass mehr dafür geben.
Und jede Träne, die ich geweint habe, wird Gott abwischen - auch die heimlichen, die ich vor den anderen versteckt habe.
Gott wird sie alle abwischen: die Tränen der Trauer, die Tränen des Versagens, die Tränen der Schuld und die Tränen der Enttäuschung.
Dann werden wir sein wie die Träumenden. Gott selbst hat das den Johannes sehen lassen. Und ich glaube es fest: Gott lügt nicht.

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