SWR3 Gedanken

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Däumlinge nennt er sie liebevoll. Und hat ihnen ein ganzes Buch gewidmet. Petites poucettes, kleine Däumlinge - und damit meint er diese junge Generation, die mit ihren zwei Daumen auf dem Handy oder dem IPad die Welt erkunden - viel schneller als es die Daumen des alten Mannes je tun könnten.
Es ist die Hommage eines Großvaters, Universitätsprofessors und Philosophen an diese Generation von Däumlingen, von der man sonst nur negatives vernimmt: ohne Moral und Anstand, Problemkinder, oberflächliche Besserwisser. Nein, Michel Serres sieht das anders: Er sieht es als Chance und er gibt ein Beispiel:
Ganz früher, also vor Erfindung des Buchdrucks musste man Geschichten und einmal Gelesenes auswendig lernen, um es anwenden zu können; dann mit Einführung von Büchern und Bibliotheken musste man nicht mehr wissen, was genau wer gesagt oder geschrieben hat, man musste nur noch wissen, wie man es finden kann, in welcher Bibliothek, in welchem Buch; heutzutage braucht man selbst das nicht mehr zu wissen, wofür gibt es Internetsuchmaschinen? Der Kopf ist frei für andere Dinge!
Was das heißt für die althergebrachten Institutionen, für Politik, Arbeit, Gesundheitssystem wird noch immer nicht erfasst. Noch baut man Schulen und Universitäten nach altem Muster und Bauplan. Aber welche ungeahnten Möglichkeiten ergeben sich erst, wenn man die kleinen Däumlinge mal ernst nimmt und ranlässt! Michel Serres macht Mut, es zu wagen.
Und ich frage mich mit Michel Serres und seinen Däumlingen: Wie wird sich die Kirche entwickeln? Welche Formen wird Religion finden? Wie wird der Glaube der Däumlinge aussehen? Welche Vorstellungen von Gott werden sie haben?
Und ich sehe den alten Philosophen vor mir, wie er die Hände ausbreitet: ‚Habt keine Angst, alles wird gut. Habt nur ein bisschen Vertrauen in die kleinen Däumlinge!'

Michel Serres, Petite Poucette, édition Le Pommier 2012.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14140
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