SWR2 Wort zum Tag

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Vor ein paar Tagen saß wieder ein Zimmermann auf Wanderschaft im Bahnhof. Ein Bündel neben sich, ein Stock, schwarze Klamotten, ein großer Hut. Es gibt eine alte Tradition, dass ausgelernte Handwerker sich auf den Weg machen. Ihre Siebensachen packen und losziehen. Und dann ein oder zwei oder drei Jahre in der Fremde arbeiten. Dort bleiben, wo es was zu tun gibt. Und dann wieder weiterziehen. Eine spannende Tradition, lebendige Tradition.
Kein Wunder, dass sich auch heute noch Handwerker auf Wanderschaft begeben. Traditionen liegen schließlich derzeit im Trend. Da freuen sich Menschen ein ganzes Jahr lang aufs Oktoberfest, da kommen die Stoffe aus den 50er-Jahren wieder, da gibt es Handyhüllen, die das Mobiltelefon wie eine gute alte Kassette aussehen lassen. Auch in der Kirche gibt es das: Am besten soll alles so bleiben, wie es die meisten gewohnt sind. Nur keine Veränderung.
Traditionen sind deshalb gefragt, weil sie gut tun. Sie sorgen dafür, dass ich mich zu Hause fühle. Sie geben mir einen Platz in einer Welt, in der sich dauernd vieles verändert. Traditionen sagen mir, wo ich hingehöre. Wie der Zimmermann, der sich einem bestimmten Beruf zugehörig fühlt - und deshalb auf die Wanderschaft geht, wie viele vor ihm.
Tradition ist aber mehr als sich im Gewohnten einzurichten. Der junge Zimmermann am Bahngleis erzählt auch davon. Seine Tradition heißt nämlich: Aufbruch. Er bricht von zu Hause aus auf, bleibt immer nur eine zeitlang an einem Ort - um dann wieder loszuziehen.
Auch der christliche Glaube kennt dieses Tradition des Aufbruchs, des Neuanfangs. Die ersten Juden brechen aus Ägypten aus, aus der Sklaverei. Dieser Aufbruch prägt bis heute den jüdischen Glauben. Und da sind die Männer und Frauen, die Jesus nachfolgen. Sie lassen ihre Familien und ihren Beruf zurück, weil sie dieser Mann so fasziniert.
Auch im Laufe der Kirchengeschichte treten immer wieder Menschen auf, die diesen Aufbruch, diesen Neuanfang fortsetzen. Ich erinnere nur an Franz von Assisi. Ein reicher Kaufmannssohn, der eines Tages merkt, dass sein Leben hohl und leer ist. Und der daraufhin alles verlässt, auf alles verzichtet, um ein armes Leben zu leben. Ein Leben, wie es Jesus gelebt hat. Franz eckt damit an. Und sorgt für einen Aufbruch. Bettelorden entstehen, in der Kirche setzt ein neues Nachdenken über Armut und Reichtum ein.
Theologisch heißt das: »ecclesia semper reformanda«, die Kirche ist eine immer wieder zu reformierende. Die Reform, die Veränderung, der Aufbruch gehören zur Kirche und zum Glauben dazu. Bei aller Sehnsucht nach dem, was bleibt: Auch der Aufbruch kann eine gute Tradition sein.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14054
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