SWR2 Wort zum Tag

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Wie weit kann Nächstenliebe gehen? Darf Nächstenliebe provozieren oder sogar verletzen? In einem kleinen belgischen Städtchen hat eine Schwesterngemeinschaft Michelle Martin, die Ex-Frau und Komplizin eines Kinderschänders und Mörders in ihr Kloster aufgenommen. Das hat mich zutiefst irritiert.
Der Fall „Dutroux" hatte die belgische Gesellschaft erschüttert. Sechs Mädchen waren Marc Dutroux und seiner damaligen Frau zum Opfer gefallen: zwei sind getötet worden, zwei grausam verhungert. Dass Michelle Martin jetzt vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, konnten viele nicht verstehen. 16 Jahre hat sie im Gefängnis gesessen, zu 30 Jahren war sie verurteilt worden. Das Gericht hatte ihre Freilassung allerdings an die Auflage gebunden, dass sie in einem Kloster unterkommen kann. Das wollte Michelle Martin selbst.

 

Die Schwesterngemeinschaft von Malonne war tatsächlich bereit, sie aufzunehmen.

Diese Entscheidung konnten viele erst recht kaum verstehen. Die Eltern der Opfer haben offenbar noch versucht, die Schwestern umzustimmen. Andere haben die Klostermauern mit Graffiti besprüht. Die Schwestern wurden als „Komplizinnen des Bösen" beschimpft und bedroht. Und als Michelle Martin schließlich von der Polizei ins Kloster gebracht wurde, haben hunderte wütende Demonstranten sie empfangen. Jetzt steht das ganze Kloster unter Polizeischutz - Nächstenliebe unter Polizeischutz.

 

 

Die Schwesterngemeinschaft von Malonne hat sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht, die Bitte um Aufnahme heftig diskutiert: Auch sie hatte der furchtbare Schmerz der Opfer und ihrer Familien aufgewühlt; das hat die Äbtissin der Schwesterngemeinschaft in einem öffentlichen Kommuniqué erklärt. Und eines wollen die Schwestern mit ihrem mutigen Schritt sicher nicht: Die Qualen der Opfer vergessen machen. Dennoch gibt die Ordensobere zu bedenken: „Frau Martin ist ein Mensch, der zum Bösen und zum Guten fähig ist - so wie wir alle." Jetzt hoffen die Schwestern, dass Michelle Martin ihre zweite Chance, die Chance zur Umkehr ergreift.

Ein Schriftgelehrter hat Jesus einmal gefragt, wer denn überhaupt sein Nächster sei, den er lieben soll. Jesus hat ihm darauf keine eindeutige Antwort gegeben. Stattdessen forderte er den Schriftgelehrten mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter heraus. Seine Botschaft: Zum Nächsten wird mir der, von dessen Not ich mich berühren, anrühren lasse.

Was aber ist, wenn eine um Hilfe bittet, die Komplizin eines Kinderschänders und Mörders war? Die Ordensfrauen von Malonne haben sich "so eine" zur Nächsten werden lassen. Mich hat diese Entscheidung zuerst irritiert. Aber, ich habe auch enormen Respekt davor.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13902
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