Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Endlose Warteschlange am Flughafen; vor mir steht eine kleine Frau, um die siebzig. Sie wirkt nervös; dauernd fällt ihr was runter. Ich bin ihr beim Aufheben behilflich. „Wissen Sie", sagt sie, „ich fliege zum Grab meiner Eltern. Und das ist so schrecklich für mich, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie!"
Und dann erzählt sie, dass sie Ungarin ist, aber schon ewig in Deutschland lebt. Und von ihren Eltern, an denen sie so hing. Und wie sie dann plötzlich hintereinander weg gestorben sind. Und wie furchtbar das für sie war, weil sie nicht dort war. Auch jetzt noch steht ihr das wilde Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
Seither fährt sie Jahr für Jahr an die Gräber, seit zwanzig Jahren. Aber es ist nicht besser geworden, mit ihrem Kummer, nur schlimmer.
„Warum fliegen Sie dann hin?" frage ich. Sie schaut mich groß an.
„Ich muss doch an das Grab meiner Eltern!"
„Wer verlangt das von Ihnen?"
Sie überlegt. „Aber das muss man doch tun!"
„Ich weiß nicht... Ich gehe fast nie an das Grab meines Vaters. Ich trage ihn bei mir, hier in meinem Herzen."
Sie blickt auf mein Herz. „Ja, und das Grab?"
„Für manche ist das sehr wichtig. Sie sind ihren Verstorbenen da nahe. Aber ich fühle das nicht. Für mich liegen da mehr die sterblichen Überreste."
„Sie meinen, nur noch die Knochen?"
„Nicht ganz. Grabstätten erinnern uns an ein Leben; und sie weisen in die Ewigkeit. Und das finde ich schön. Aber ich leide nicht wegen der Gräber. Ich leide daran, dass ein Mensch einfach nicht mehr da ist; ich leide am Trennungsschmerz. Oder weil ich etwas Wichtiges nicht mehr sagen kann. Oder weil ich nicht da war. Und das macht mir Gewissensbisse.
Aber ich glaube, die Toten sind viel großmütiger mit uns, als wir selbst es sind. Wenn ich im Geiste mit ihnen rede, dann sagen sie mir: Das spielt alles keine Rolle mehr. Wir möchten, dass es Dir gut geht.
Und was Sie betrifft", ich schaue die Frau an, "bin ich mir ganz sicher: Ihre Verstorbenen erwarten bestimmt nicht, dass Sie an ihr Grab gehen, wenn Ihnen das so schlecht bekommt."
Sie sieht mich lange nachdenklich an. Dann sagt sie: „Sie haben Recht: meine Eltern hätten nie gewollt, dass ich mich so quäle."
Und plötzlich funkelt es in ihren Augen. „Ich glaub, ich sollte Sie heute treffen!"

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