Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Gedankenverloren verlassen wir das Krankenhaus. Meine Schwester und ich haben eben erfahren: Unsere Mutter ist unheilbar krank; ein, zwei Wochen vielleicht, haben wir noch miteinander.
Traurig steigen wir in den Wagen. Meine Schwester fährt los, dann quietschende Reifen und ein lautes Krachen. Was ist passiert?
Ein anderer Wagen hat uns die Vorfahrt genommen. Meine Schwester hat noch im letzten Moment reagiert und voll in die Bremsen getreten. - Was für ein Glück! Wir steigen aus; das Nummernschild ist abgeflogen und der Kühler ist verzogen. Eine junge Frau kommt auf uns zu. Sie sagt unter Tränen:
"Bitte schreien Sie mich nicht an! Ich bin schuld. Aber bitte schimpfen Sie nicht!"
Sie wirkt so aufgelöst und verletzlich, dass ich instinktiv auf sie zugehe und sie an der Schulter berühre. „Niemand schimpft mit Ihnen!" sage ich.
Meine Schwester kommt hinzu. Die junge Frau sieht uns weinend an und sagt:
„Mein Freund hat Krebs. Und es ist nicht mehr heilbar." Jetzt kommen auch uns die Tränen und wir haben Mühe, nicht loszuheulen.
„Wir hatten auch gerade eine schlimme Mitteilung", sage ich. „Unsere Mutter..." - „Oh, das ist schlimm!" sagt sie. „Das tut mir leid."
„Ja", antworte ich. „Aber Ihr Freund, der wird wohl noch ganz jung sein..."
Und wir erfahren: er ist nicht einmal dreißig.
Und so stehen wir auf der Straße herum und trösten einander. Sie ist froh, dass wir so freundlich zu ihr sind und nicht schimpfen. Und wir sind ein wenig getröstet, weil die junge Frau unseren Kummer genauso ernst nimmt wie ihren eigenen. Obwohl ihr Schicksal doch viel tragischer ist; ihr Freund ist noch so jung.
Wir tauschen Adressen aus, Kennzeichen, Versicherungen, aber eigentlich ist das auf einmal völlig nebensächlich. Was bleibt, ist diese innige Begegnung zwischen Fremden, da, mitten im Chaos. Und das Gefühl: Keiner ist so ganz allein.

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