SWR2 Wort zum Tag

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„Opa, ich hoffe, du verlierst nie die Lust, uns von deinem Leben zu erzählen". Bei einem runden Geburtstag sagte das letzthin die Enkelin vor allen Gästen zu ihrem Großvater, der aus Schlesien fliehen musste. „Opa, ich hoffe, du verlierst nie die Lust, uns von deinem Leben zu erzählen." Ich finde, das ist eine gute Haltung. Den Alten Mut machen, zu erzählen. Gerade so können alte Menschen ihren Frieden finden, mit sich und ihrer Geschichte. Und junge Menschen können lernen, was sie übernehmen und was sie nie erleben wollen. Und gemeinsam können alle, erinnernd, nach vorne blicken. Im biblischen Buch des Propheten Joel ist als Zeichen des Heiligen Geistes die Prophezeiung überliefert: Eure Alten sollen Träume haben. Wenn sich die Erinnerungen alter Menschen in Zukunftsvisionen öffnen können, dann ist das ein Zeichen des Friedens, für sie persönlich, aber auch für die Gesellschaft, in der sie leben. Ich glaube, wir brauchen das alle. Erinnerungen, die zu Träumen werden.
Ich fürchte, viele alte Menschen hören nicht so nette Sätze von ihren Enkeln wie der schlesische Großvater an seinem Ehrentag. Meine Schwester wurde einmal in einer Warteschlange vor dem Postschalter unvermittelt von einer alten Dame angesprochen: „Bekommen Sie nie mehr als zwei Kinder" sagte die Frau, „nur zwei Kinder, eins für jede Hand. Bei der Flucht ist das besser. Da kann keins weglaufen." Ich glaube, diese Frau hat in ihrer engen Umgebung niemanden gefunden, der ihr zuhören wollte, dem sie erzählen konnte von den Erlebnissen, die in ihrer Seele Risse hinterlassen haben.
Und das finde ich schlimm. Es kommt ja nicht darauf an, Ratschläge zu beherzigen oder sofort umzusetzen, es kommt darauf an, dass Menschen ihre Erinnerungen und ihre Lebensweisheiten erzählen dürfen und man ihnen zuhört. Ich glaube, es hat Deutschland nicht gut getan, dass man lange Zeit vor den Erinnerungen der Kriegszeit die Ohren verschloss. Alte sollen Träume haben dürfen, keine Alpträume. Und das geht nur, wenn Erinnerungen geteilt werden, auch die schlimmen Erinnerungen. Ich wünsche mir, dass die alte Frau von der Post offene Ohren findet und auch einmal so träumen darf: Von einer Welt, in der keine Frau sich mehr grämen muss, nur zwei Hände zu haben, von einer Welt, in der niemand Angst um seine Kinder haben muss. Dass sie träumen darf von einer Welt des Friedens - des Friedens auch für sie.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13755
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