SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Mit einem kleinen Leiterwagen bin ich als Studentin in Tübingen umgezogen," erzählt mir eine alte Dame. „Wir hatten ja nichts, nach der Flucht. Und als ich meine Sachen in den Leiterwagen gepackt hatte und ihn durch die Straßen zog, da dachte ich: Ich möchte nie mehr besitzen als das, was in einen solchen Leiterwagen passt." Aus dem Vorhaben ist natürlich nichts geworden. Sie hat geheiratet und ein Haus gebaut und mit ihrem Mann zusammen viele schöne Dinge gesammelt. Jetzt, nach seinem Tod, geht es darum, auszusortieren und sich von Vielem zu trennen. Ein Leiterwagen würde selbst dafür längst nicht mehr ausreichen. Doch als sie erzählt, von dem Umzug in Tübingen, da blitzt ein Lächeln über ihr schönes altes Gesicht. Damals war: Freiheit! Als Studentin hat sie nicht dem verlorenen Besitz im Osten nachgetrauert sondern die Leichtigkeit genossen. Da war nichts, was sie belasten konnte, sie war frei! Die vielen Dinge im Haus dagegen sind heute schon eine Last.
Ob die Kinder etwas damit anfangen können? Sie haben selbst Häuser, die bis oben hin angefüllt sind mit den Sachen, die ihnen am Herzen liegen. Möglicherweise werden sie später das ein oder andere Teil behalten, aber der Rest? Man kann den Kindern ja nicht zumuten, in einem Museum ihrer Eltern zu leben, stellen wir fest. Sie müssen sich verabschieden dürfen von dem Besitz ihrer Eltern, auch sie haben das Recht, mit einem Leiterwagen anzufangen, in den das passt, was zu ihnen passt. Sie haben das Recht auf Freiheit.
Die Zeit ist kurz, sagt der Apostel Paulus. Fortan sollen die, die kaufen sein, als behielten sie es nicht, und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Und warum? Weil, so erläutert Paulus: Ich möchte, dass ihr ohne Sorge seid. Ohne Sorge! Darauf kommt es an. Und sie sorgt sich ja schon, die alte Dame. So schön es ist, viel zu besitzen - es belastet auch. Ich fange an zu begreifen, warum sich immer wieder Menschen von dieser Last befreit haben. Reiche Erben haben ihr Erbe verschenkt oder gestiftet, Menschen probieren das Klosterleben aus und entdecken die Einfachheit für sich. Und ich verstehe, warum sich die alte Dame zurücksehnt nach der Freiheit der Tage, als ihr Leiterwagen über das Tübinger Kopfsteinpflaster ratterte.
Die Zeit ist kurz, unsere Lebenszeit. Und es ist schade, sie mit Sorge zu verdunkeln. Sorge dich nicht. Habe, als hättest du nicht, rät der Apostel Paulus, möglicherweise ist das ein großes Lebensgeheimnis, ein Schlüssel zum Glück.

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