SWR2 Wort zum Tag

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„Du weinst um das Nachlassen und, so unglaublich es sein mag, den unvermeidlichen Verfall der Sehnsucht", sagt Christa Wolf in ihrem autobiografischen Roman „Kindheitsmuster".
Es sind die altersbedingten Veränderungen, die Christa Wolf aufzählt: „das Schwinden der hochgespannten Erwartungen", der „Verlust jener Verzauberung, die Dinge und Menschen bisher gesteigert hat und die das Älterwerden ihnen entzieht", „das Schrumpfen der Neugier", „die Schwächung der Liebesfähigkeit", „das Nachlassen der Sehkraft", „das Ersticken ungebändigter Hoffnung".
Altwerden kann heißen, mit Krankheit, mit körperlichen Gebrechen umgehen zu lernen. Es bedeutet, Dinge loslassen zu müssen, die mein bisheriges Leben bestimmt haben und zu akzeptieren, dass Gewesenes unwiederbringlich ist. Alter kann einsam machen, weil der Mensch, den ich geliebt habe und der der Reichtum meines Lebens war, nicht mehr da ist.
Aber muss damit wirklich „die Sehnsucht verfallen"?
Ich glaube, Wünsche, Träume und Sehnsüchte können zwar bescheidener werden, aber sie müssen im Alter nicht verstummen. Altern heißt nicht, die Sehnsucht nach Heil, nach Sinn, nach Kreativem, nach einem authentischen Leben zu verlieren. Ich kann immer noch Neuland entdecken, neue Lebensformen, ein Ehrenamt für mich finden. Immer ist Raum für Schönes, für das Noch-nicht. Wer aus der Hoffnung lebt, dass das Leben mehr bereithält als das, was ist, der wird die Sehnsucht nicht verlieren.
Das Alte Testament spricht oft von einem erfüllten Leben im hohen Alter. Es sind die Patriarchen, von denen gesagt wird, dass sie „alt und lebenssatt" waren. So zum Beispiel Abraham, dessen hohes Alter in der Bibel als erfülltes Leben bezeichnet wird. Sein Leben wird glücklich genannt. Er hat noch im hohen Alter gehofft, dass das Leben mehr bereit hält als das, was ist und ist noch einmal aufgebrochen in Neuland. Er hatte diesen Mut, weil er seine Lebensgeschichte als gesegnet und im Vertrauen auf Gottes Führung verstanden hat.
Solche Geschichten machen Mut, die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben auch im Alter wachzuhalten und die Phantasie für morgen nicht zu verlieren. Denn auch das Alter ist Leben mit seinen eigenen Möglichkeiten und Qualitäten.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13746
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