Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Als der Dichter Rainer Maria Rilke vor ungefähr hundert Jahren in Paris war, soll er jeden Mittag an einer Bettlerin vorbeigekommen sein. Er hat ihr nie etwas gegeben. Doch eines Tages legt er eine gerade aufgeblühte Rose in die ausgestreckte Hand der Bettlerin. Da blickt die Frau plötzlich auf, küsst Rilke die Hand und geht mit der Rose davon.
Eine Woche lang bleibt sie verschwunden. Dann sitzt sie wieder am gewohnten Platz und streckt ihre Hand aus. Auf die Frage: "Wovon hat sie denn die ganze Woche lang bloß gelebt?" meint Rilke: "Von der Rose . . ."
Eine seltsame Geschichte! Wie kann man eine Woche lang von einer Rose leben?! Aber auch eine wunderschöne Geschichte. Sie zeigt mir, dass wir mehr zum Leben brauchen als Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf. Das ist alles lebensnotwendig. Aber es reicht nicht.
"Man müsste ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand", antwortet Rilke, als er gefragt wird, warum er der Alten nie etwas gibt. Nicht als Bettlerin beschäftigt sie ihn, sondern als Mensch. Er empfindet, dass sie noch etwas anderes braucht als das zusammengebettelte Geld. Darum schenkt er ihr Freude und nimmt sie als Mensch, als Frau ernst.
Es ist eine Geschichte. Ich glaube nicht, dass es funktioniert, wenn ich mit einer Handvoll Rosen durch die Fußgängerzone gehe und jedem Bettler eine gebe. Aber es ist gut, wenn ich mir Gedanken über den anderen Menschen mache. Was braucht er? Was wünscht er sich insgeheim? Was fehlt ihm - über das Offensichtliche hinaus?
Dann erst trete ich mit den anderen wirklich in Kontakt. Am Anfang unserer Geschichte sitzt die Bettlerin nur da und streckt ihre Hand aus. Sie schaut nie hoch. Selbst dann nicht, wenn sie etwas bekommt. Und viele gehen an ihr vorbei. Manche geben ihr etwas, die meisten gehen weiter, ohne sie zu beachten. Als Rilke ihr die Rose gibt, schaut sie hoch, berührt ihn.
Das brauchen wir zum Leben: dass uns jemand ernst nimmt, dass jemand spürt, wie es uns geht und was wir wirklich brauchen. Jemand, der uns ins Herz sehen kann und sich nicht von unserem Äußeren täuschen lässt, sei es glänzend oder kläglich. Wenn wir uns einander so zuwenden können, dann wird das Leben erst richtig schön!
Wir leben davon, dass andere sehen, was wir wirklich brauchen.

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13688
weiterlesen...