SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Ein Durchschnittseuropäer besitzt zehntausend Dinge, habe ich gelesen. Ich glaube das sofort. Ich bin nämlich gerade mitten im Umzug. Und die Menge an Dingen, die da aus Regalen und Schubladen, aus Keller und Dachboden zum Vorschein kommt, ist einfach erstaunlich.
All diese Besitztümer mal wieder in die Hand zu nehmen, ist einerseits schön. Denn in gewisser Weise passiert da mein Leben Revue. Verblichene Exemplare der Schülerzeitung aus dem Gymnasium, der klobige Anrufbeantworter aus der ersten eigenen Wohnung und ein vergessener Schnuller aus der Babyzeit der Kinder, alles ruft Erinnerungen wach.
Aber gleichzeitig empfinde ich die Flut der Dinge auch als echte Last. Besitz macht unbeweglich. Konnte ich als Studentin meine paar Habseligkeiten noch ganz leicht von einem Ort zum anderen transportieren, ist ein Umzug heute ein wochenlanges und anstrengendes Projekt. Und Besitz kostet auch Zeit. Wollte ich alles wirklich so ordnen und pflegen, dass es jederzeit gebrauchsfähig und zugänglich wäre - ich müsste einen großen Teil meiner Energie und Arbeitskraft darauf verwenden.
Die Ökumenische Gemeinschaft von Taizé hat das Problem mit dem Ballast ihrer Vergangenheit auf ganz eigene Weise gelöst. „Wir verbrennen alles, wir bewahren nichts auf", sagen die Brüder und verzichten auf jede Art von Archiv. Sie wollen damit zeigen, dass das, was Taizé ausmacht, das, was Jugendliche aus der ganzen Welt in das burgundische Dorf zieht, sowieso nicht auf Papier festzuhalten ist. Der Geist der Gemeinschaft, der Geist Gottes, der muss sich jeden Tag neu ereignen und entfalten. Vivre l'aujourd'hui de Dieu - das Heute Gottes leben, darum geht es in Taizé, sagen die Brüder.
Mich beschäftigt dieser Gedanke. Sicher, alles wegzuwerfen ist eine sehr radikale Lösung. Wenn alle es so machen würden, wäre ein guter Teil unserer Geschichte verloren. Ich möchte auf die wichtigsten Erinnerungsstücke nicht verzichten - und die Vorstellung, dass sie mir mit Gewalt genommen werden könnten, ist sehr schmerzlich.
Aber trotzdem: die Idee, den Ballast der Vergangenheit im eigenen Leben nicht zu groß werden zu lassen, um Raum für das „Heute Gottes" zu lassen, die finde ich sehr wichtig. Deshalb werde ich auch bei diesem Umzug versuchen, mich von vielen Dingen zu trennen. Denn es ist richtig: Das, was mein Leben trägt und reich macht, lässt sich eigentlich nicht auf Fotos und in Erinnerungsstücken festhalten. Das kann ich nur im Herzen bewahren - und jeden Tag leben. Und darauf vertrauen, dass es mir immer wieder neu geschenkt wird.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13687
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