SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

„Wasser! So viel Wasser!" Völlig ergriffen und mit großen Augen hat das kleine Mädchen in den Dünen gestanden. Keinen Zentimeter hat sie sich von der Stelle gerührt. Und jeder, der dabei war, hat gespürt: Das kleine Mädchen ist völlig begeistert vom Wasser, von so viel Wasser.
Zum allerersten Mal in ihrem Leben war sie mit ihren Eltern ans Meer gefahren. Und im Vorfeld hatte sie auch schon Bücher über das Meer angeschaut. Sie hat gewusst: Das Meer besteht aus Wasser, aus großen Wassermassen. Ganz viel Wasser eben.
Aber das Wissen ist das eine, Bücher angucken das andere und das Meer in Echt sehen: Das ist wieder anders. Das ist beeindruckend. Überwältigend.
„Wasser! So viel Wasser!" Ich habe dem kleinen Mädchen zugeschaut und war glücklich dabei zu sein. Ich habe mich anstecken lassen von ihrer Freude, habe versucht, mit ihren Augen das Meer zu sehen. Das Wasser, das viele Wasser. Und ich war auch neidisch - das gebe ich zu. Denn ich möchte auch mal wieder so staunen können. Denn so staunen zu können, sich so begeistern zu lassen, das ist ein Segen. Denn erst wenn man Staunen kann, begreift man wirklich. Erst wenn man Staunen kann, wird man ergriffen und auch: dankbar. Dann merkt man erst, wie viel Schönes es gibt, wie wunderbar doch die Welt ist. Dann sehe ich das Meer und freue mich einfach darüber, dass es da ist, dass ich es erleben darf. Einfach so. Wunderbar eben.
Mir gelingt das Staunen so oft gar nicht mehr. Viel zu sehr habe ich mich an die Wunder der Schöpfung gewöhnt, vieles ist so selbstverständlich geworden. Ich weiß dann einfach: Das Meer hat viel Wasser. Aber ich bewundere es nicht mehr so wie das kleine Mädchen.
„Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter. Da ist das Meer, das so groß und weit ist." (Psalm 104,24-25a) So hat vor ca. 3000 Jahren jemand sein Staunen in Worte gepackt. Und so wie ich mich habe anstecken lassen von der Ergriffenheit des kleinen Mädchens am Strand, so helfen mir diese alten Worte meine Dankbarkeit auszudrücken. „Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter. Da ist das Meer, das so groß und weit ist." Oder wie das kleine Mädchen viele, viele Jahre später gesagt hat: „Wasser, so viel Wasser!"

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