SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Können Sie fliegen? Nein, ich meine nicht mit dem Flugzeug. Ich meine Fliegen, ohne technisches Gerät, ohne fremde Hilfsmittel? Fliegen wie ein Vogel ...
Ich erlebe das manchmal im Traum. Ein Sprung von einem hohen Turm oder Felsen führt nicht zum Absturz. Sondern geht über in einen sanften Gleitflug. Dann fliege ich über weite Landschaften und blaue Flüsse.
Fliegen ohne fremde Hilfsmittel - das können wir in Wirklichkeit nicht. Wir würden jämmerlich zerschellen. Aber es gibt Situationen, wo unsere Seele fliegen kann. Davon spricht Joseph von Eichendorff in dem Gedicht Mondnacht. „Es war als hätt' der Himmel die Erde still geküsst, dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst."
Wer dieses Gedicht liest, spürt den leisen Luftzug, der über die nächtlichen Felder streift, empfindet die Weite des Himmels in einer sternklaren Nacht. Am Schluss heißt es: „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus."
Manchmal erhebt mich meine Seele über alles, was mich im Alltag beschwert und belastet. Dann habe ich das Gefühl, fliegen zu können. Ich lasse sein, was ich denke, was ich plane, was ich will. Und öffne mich ganz für das Andere da draußen.
Es ist heute schwer geworden, solche religiösen Erlebnisse zu beschreiben. Vieles drängt sich davor an Begriffen und Vorstellungen, die mich abkapseln von der Erfahrung, dass es noch etwas ganz Anderes als mein planendes Ich gibt.
In der Bibel sind viele solcher Erfahrungen beschrieben. Sie erzählt von Menschen, die durchs Feuer gegangen sind, ohne zu verbrennen. Oder über das Wasser, ohne unterzugehen. Oder die fliegen konnten. „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen", heißt es in einem Psalm.
Mit ihm überwinde ich die Erdenschwere. Das, was mich drückt und belastet. Das ist dann nicht einfach weg, aber ich bleibe nicht festgelegt darauf. Ich gewinne Leichtigkeit, weil ich den Punkt vor Augen habe, wo Himmel und Erde einander berühren.
Schwer in Worte zu fassen ist das. Aber mein Leben ändert sich dadurch, auch wenn es nur wenige und kurze Erlebnisse dieser Art gibt. Aber wenn es einmal geschieht, dann ist das so, wie Joseph von Eichendorff dichtete:
„Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus." Wo wird sie mich hintragen, meine Seele, heute?

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