SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Wenn sich im Sommer eine Fliege bemerkbar macht, um meine Nase schwirrt,  sich auf meine Stirn setzt, das nervt, dann könnt´ ich grad - zuschlagen.
Ich gestehe: Ich besitze eine Fliegenklatsche. Auf dem Nachttisch. V.a. Mücken sind gefährdet.
Nun habe ich unlängst bei einer Taufe das Lied „Weißt du wie viel Sternlein stehen...?" mitgesungen. Die erste Strophe voller Inbrunst. Aber dann, in der 2. Strophe, heißt es:
„Weißt du wie viel Mücklein spielen, in der heißen Sonnenglut.
... Gott der Herr, rief sie mit Namen, dass sie all ins Leben kamen."  (Ev. Gesangbuch, Nr. 511)
Das ging erst einmal nicht über meine Lippen. Also: von den Sternen - und erst recht von den Kindern - kann ich das so sagen: „Gott der Herr, rief sie mit Namen, dass sie all ins Leben kamen." ?? Aber Mücklein?
Wie gesagt: Meine Ehrfurcht vor dem Leben anderer Lebewesen kennt Grenzen - wenn sie mein und anderer Menschen Leben bedrohen. Aber es könnte ja sein, und ich habe das Gefühl, je länger ich darüber nachdenke,  dass der Dichter Wilhelm Hey mit den Mücklein und Fischlein in seinem Lied - das macht sie ja irgendwie nahbar und niedlich - dass er mir so die Augen für alle Art von Mitgeschöpfen öffnen will. Gerade für die kleinen. Bis hin zu Insekten in der Sommerhitze.
Ob es seine gesteigerte Lebensfreude war? Denn bald, nachdem er dieses Lied gedichtet hat -  wurde er erstmals Vater -  mit beinahe 49 Jahren. Empfindsam für das werdende Leben - sensibel geworden für die kleinen Mitgeschöpfe? Vermutlich hatte Wilhelm Hey auch noch ein anderes Verhältnis  zur außermenschlichen Schöpfung gehabt. Oder: Er wollte seine Nähe und Liebe zu anderen Geschöpfen mit seinem Lied proklamieren, vor 175 Jahren, da es entstand.
Doch unabhängig von diesen Entstehungsgründen: Wilhelm Hey hat mit seinem Lied in mir eine Vorstellung von der Mitfreude am Leben anderer Geschöpfe angeregt. Und: Gott hat Freude an allen - „er liebt auch dich und hat dich lieb."
Seither denke ich, wenn ich einer Fliege das Fenster öffne: ? Was die wohl jetzt empfindet? Wenn Felder und Wälder, Berge und Flüsse sich freuen können - wie es in den Psalmen heißt (Psalm 96 und 98) - vielleicht hat auch eine Fliege Empfindungen? Wer weiß?
Ich öffne das Fenster und für einen Moment ist ihre Ausweglosigkeit abgewendet.
Ich wundere mich, wie kleinformatig Befreiung beginnen kann.
Mit Mücklein, und Fischlein und Menschlein.  Gar nicht kitschig, finde ich.

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