SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Geh erst mal vier Wochen in den Schuhen eines anderen Menschen, dann urteile über ihn," hat meine Mutter immer gesagt: Heute könnte ich ergänzen: Probiere einmal vier Wochen einen Rollstuhl, dann weißt Du mehr über die Situation Behinderter in Deutschland. In unserem Fall waren es sogar nur zwei Tage, doch die haben mich Einiges gelehrt. Wie es dazu kam? Eine kurzfristig notwendige Fussoperation und dann die Überlegung: Müssen wir den lange geplanten Urlaub absagen, weil mein Freund mit seinem Fuss zwar kurze Strecken gehen kann, keinesfalls jedoch die weiten Wege im Flughafen? Wir erinnerten uns an die vielen Plakate, die Behinderte auf ihre Rechte im Flugverkehr aufmerksam machen. Beim Check-In geht alles ganz schnell und wir fahren mit dem Rolli durch den Flughafen. Wie wenig die Leute aufeinander achten! Immer wieder kommt es vor, dass jemand fast in den Rollstuhl hinein läuft und den operierten Fuss gefährdet. Mein sonst gar nicht ängstlicher Freund schaut besorgt. In Madrid sitzen wir in einer Gruppe der Mühseligen und Beladenen und warten darauf, abgeholt zu werden. Eine alte Dame blickt ängstlich, sie ist alleine unterwegs. Wir stellen fest, wie viel Glück wir haben, dass wir nicht alleine sind und ich laufen und fragen kann, wann es weiter geht, das hat uns nämlich niemand gesagt, als wir abgestellt wurden. Insgesamt klappt der Service aber gut.
Im Urlaub sehe ich die Rollifahrer auf der Promenade mit ganz neuen Augen an. Wie viel Mühen sie auf sich nehmen müssen, um einen Strandurlaub zu erleben! Mein Freund sagt, dass es ein merkwürdiges Gefühl ist, aus der Rollstuhlperspektive ständig nach oben sprechen zu müssen, ähnlich wie ein kleines Kind. Plötzlich ist man nicht mehr auf Augenhöhe, das ist kränkend. Auch die mitleidigen Blicke der Menschen haben ihn merkwürdig berührt. „Ein Perspektivenwechsel ab und zu ist aber gar nicht schlecht," meint er. Wir haben viel gelernt auf diesen Flügen. Zum Beispiel, achtsam hinzusehen. Behinderte brauchen kein Mitleid, sondern Respekt. Wie viel Platz muss ich beim Parken auf dem Bürgersteig lassen, damit Kinderwagen und Rollstühle noch bequem durchpassen? Traue ich mich, Menschen anzusprechen, wenn sie unberechtigt auf einem Behindertenparkplatz parken? Achte ich auf Kinder und darauf, dass sie nicht übersehen werden? Auf Augenhöhe miteinander sprechen, das geht - auch wenn jemand kleiner ist - oder größer als ich. „Geh erst mal vier Wochen in den Schuhen eines anderen Menschen..."

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