SWR2 Wort zum Tag

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Der ‚Isenheimer Altar' in Colmar mit den Gemälden von Matthias Grünewald ist vielen bekannt. Er entstand in der Zeit um 1512, also vor rund 500 Jahren. Das Unterlindenmuseum in Colmar erinnert daran mit einer Sonderausstellung, mit Vorträgen und Lesungen. Sie beziehen sich vor allem auf die berühmte Darstellung der Kreuzigung. Grünewald hat sie für das ehemalige Johanniterkloster, also für ein Krankenhaus geschaffen.
Im Zentrum dieses Bildes steht, vor dunklem Hintergrund, der von Wunden entstellte Leib des gekreuzigten Christus; festgenagelt an roh behauenen Holzbalken. Der Kopf des Getöteten ist nach unten gesunken; die Hände sind, wie ein Schrei, nach oben gereckt. Diesem 500 Jahre alten Gemälde stellt die Ausstellung in Colmar ein Kunstwerk aus unseren Tagen an die Seite. Es besteht aus vier Christusfiguren des 1971 geborenen Künstlers Adel Abdessemed. Er hat diese Christusfiguren aus Stacheldraht geflochten, sie hängen jetzt an der weißen Seitenwand der Kapelle, in der sich auch Grünewalds Altarbilder befinden - und sie wirken hier wie Vervielfältigungen des von Grünewald gemalten Christus; gleich groß und mit ähnlicher Haltung von Körper, Kopf und Händen. Adel Abdessemed stammt aus Algerien; er verließ sein Land 1995, nachdem der Direktor der Kunstakademie, an der er studierte, im Bürgerkrieg ermordet wurde. Bald nach seiner Ankunft in Frankreich, besuchte er das Museum in Colmar und verbrachte Stunden vor dem Gemälde von Grünewald. Viele Jahre später erst schuf er in den USA die vier aus Stacheldraht geflochtenen Körper. Jetzt ist sein Werk im selben Raum vereint mit dem alten Gemälde und stellt eine ungeheure Spannung zu ihm her.
Das Altarbild von Grünewald gehört zu den Kunstwerken, die man zu kennen glaubt. Auch wer noch nie in Colmar war, meint, das berühmte Gemälde zu kennen. Nun wird es auf aufregende Weise fremd, in der Nähe der vier Körper an der Wand. Sie greifen in den Raum hinein. Geformt, nicht gemalt rücken sie uns unweigerlich näher als das Bild. Aber der Stoff, aus dem sie geformt sind, ist Stacheldraht, kein anderer Stoff könnte abweisender sein. Er reißt Wunden, er reißt Menschen auseinander.
Vier Körper - es sind viele in aller Welt, die einander gleichen in dem zerreißenden Schmerz ungerechter Gewalt, die sie erleiden. Hier in Colmar hängen sie ganz nah bei dem, der vor 2000 Jahren gekreuzigt wurde und von dem einer unter dem Kreuz gesagt hat: „Dieser ist wahrhaft Gottes Sohn".

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13442
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