SWR2 Wort zum Tag

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„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, es sei denn durch mich". Dieser Satz aus dem Johannesevangelium scheint den christlichen Glauben in wenigen Worten auf den Punkt zu bringen. Er klingt eindeutig, abschließend, so als ob er keine weiteren Fragen mehr zuließe. Wahrscheinlich reagieren gerade deshalb Menschen so unterschiedlich, sogar entgegengesetzt auf diesen Satz.
Die einen weisen ihn zurück, weil er in ihren Augen einen unerträglichen Absolutheitsanspruch enthält und Anders-Denkende, Anders-Glaubende abwertet: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, es sei denn durch mich". Manche unterstreichen diesen Satz gerade deswegen gerne, weil er so eindeutig klingt und einen Halt verspricht, den sie anderswo vermissen: ‚Es gibt ihn also doch, den einzig richtigen Weg, die alleinige Wahrheit, und das allein richtige Leben'.
Ablehnen und Hervorheben - beides scheint mir vorschnell. Man wird diesem Satz eher gerecht, wenn man fragt: Wer spricht hier, zu wem, in welcher Situation, mit welcher Absicht?
Der Verfasser des Johannesevangeliums spricht zu einer Gemeinde, die nicht mehr die unbedenkliche Freude der christlichen Anfänge kennt. Fast ein Jahrhundert ist vergangen, seit Jesus gelebt hat, gestorben und auferstanden ist. Die Christen sind mutlos und kraftlos geworden. Es gibt Christenverfolgungen und die Konkurrenz anderer Weltanschauungen. Auch innerlich breiten sich Zweifel aus. Der Glaube der Christen ist angefochten, weil er ein Weg ist, der sich erst im Gehen als richtig erweist, weil seine Wahrheit sich erst im Tun erschließt. Glaube zeigt sich erst allmählich in seiner Leben schaffenden und das Leben stärkenden Kraft. In diese Situation hinein will der Verfasser des Johannesevangeliums Mut zusprechen. Sein Jesus-Wort: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" hat für die Hörer und Leser seines Evangeliums die Botschaft: Ihr könnt euch dem Weg, den Jesus gegangen ist, anvertrauen; ihr könnt euch auf die Wahrheit seines Lebens verlassen. Ein Leben in seinen Spuren führt zum Ziel, zu Gott, den er Vater nennt, und der der Vater aller ist.
Im Sinne dieser Botschaft ermutigt der anstößige Satz die Menschen, die der Wahrheit Jesu auf der Spur bleiben wollen, zum Ausharren. Diese Worte trennen nicht, sondern sammeln alle, die nach gangbaren Wegen suchen und nach einer Wahrheit, die dem Leben dient.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13441
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