SWR2 Wort zum Tag

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Gerechtigkeit wird im Schweigen geübt? Eine sonderbare Vorstellung. Gerade Gerechtigkeit braucht doch das Sprechen: jemand muss laut anklagen, wenn Menschenrechte verletzt werden. Jemand muss Recht sprechen, und jemand muss die verteidigen, denen Unrecht angetan wird! Und doch: „Die Übung der Gerechtigkeit ist das Schweigen." Dieser Satz steht am Ende der kurzen Ordensregel der Karmeliten, und der niederländische Karmelit Carlos Mesters hat dazu eine kleine Schrift verfasst, über die „Praxis des Schweigens". Carlos Mesters ist in Brasilien als Bibeltheologe tätig, und er selbst kann sprechen wie kaum jemand. Immer wieder bringt er das Wort der Bibel zusammen mit dem Wort des Lebens, des Lebens vor allem der armen Bevölkerung am Rand der brasilianischen Gesellschaft. So ermutigt er Menschen zum Sprechen, die an die Kraft ihres eigenen Wortes oft nicht mehr glauben. Ausgerechnet dieser Carlos Mesters schreibt über das Schweigen.
Schweigen, so gibt er zu bedenken, ist nicht gleich Schweigen. Es kann die unterschiedlichsten Qualitäten haben: „Das Schweigen in einer Bibliothek; ... das Schweigen der Natur - vor einem Sturm etwa; das Schweigen der Angst; das Schweigen eines Volkes unter einer Diktatur; ... das Schweigen der Verliebten; ... das Schweigen Gottes".
Welches Schweigen ist es also, durch das Gerechtigkeit geübt wird? Welches Schweigen bereitet uns darauf vor, den stummen Schrei unterdrückter Menschen zu hören und darin auch den Ruf, die Bitte Gottes zu vernehmen, der in ihrem und in unserem Alltag spricht? Welches Schweigen lässt uns solidarischer werden und macht uns fähig, Worte zu sagen, die Mutlose trösten? Es ist ein Schweigen, in dem sich Mensch und Gott gewissermaßen entgegenkommen. Menschen können es einüben; und es wird zu einer Kraft, in der Gott schöpferisch wirkt. Aber eine solche Übung kostet Mühe. So viele Stimmen drängen dazu, eine Situation in einem bestimmten Licht zu sehen: so, wie es einem selbst und der eigenen Gesellschaft nutzt.
Es ist nicht einfach, all diese Stimmen in sich selber zum Schweigen zu bringen. Es braucht Mut, zur herrschenden Meinung Nein zu sagen. Es braucht Geduld, bis sich nach und nach eine andere als die herrschende Sicht der Dinge öffnet. Mit ihr, mit dieser neuen Sicht beginnt die Übung der Gerechtigkeit.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13440
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