SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Endlich fragt mich mal einer danach, meint meine Mutter. Endlich hört mir mal einer richtig zu! Wir, ihre Kinder, stöhnen ja jedes Mal leise auf, wenn sie wieder davon anfängt: Flucht und Vertreibung. Wir denken im Stillen: Nicht schon wieder diese alten Geschichten! Seit wir uns erinnern können, wird uns das erzählt. Aber dann kommt ihre sechzehnjährige Enkeltochter, setzt sich erwartungsvoll neben sie, das Mikrophon in der Hand und erklärte: „Oma, erzähl doch mal, wie das alles war. Ich schreib in der Schule gerade eine Jahresarbeit über das Thema Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen. Du hast das doch alles miterlebt."
Ihre Enkeltochter  hört wie gebannt zu: Wie die große Familie damals 1945 bei Nacht und Nebel und in eisiger Kälte aufbrechen musste. Wie der Großvater und die Großmutter über das zugefrorene Haff flüchteten. Wie die Pferdewagen in das Eis einbrachen und die Ertrinkenden schrien. Wie die Flüchtlingsschiffe bombardiert wurden. Wie meine Mutter mit ihren vier Geschwistern dann über Monate in Eisenbahnwaggons hausen musste. Wie ihnen eingeschärft wurde,  sich immer an einer Milchkanne festzuhalten, damit sie in dem Chaos nicht verloren gingen. Wie sie dann nach wochenlanger Flucht ins Erzgebirge in ein Dorf kamen, die leere Milchkanne in der Hand, und sangen: nun gibt es Milch und Butter - und es gab nur eine zugige Kammer für sieben Personen, vermodertes Stroh auf der Erde, ein Kreuz an der Wand und nichts zu essen, Schließlich der traurigste Moment in ihrem Leben: wie sie auf einer Bank lag, ohne ein Dach überm Kopf, mit Fieber und leerem Magen. Und der Vater neben ihr saß, der ihr nichts zu essen geben konnte und auch keine Arznei und nur weinte.
Als wenn das noch nicht gereicht hätte, dann acht Jahre später noch einen zweite Flucht aus der DDR: Wieder alles zurücklassen müssen, wieder in einem Lager leben, wieder mit nichts angefangen.
Wir aus der „Kindergeneration"  kennen diese Geschichten in und auswendig. „Das ist doch alles schon ewig her", sagen wir. „Du lebst hier in einem schönen Haus, in Frieden, im Überfluss. Kannst du das nicht endlich einmal vergessen?"  Sie kann das nicht vergessen. Ihr ist immer, als wenn das alles erst gestern gewesen wäre und morgen wieder sein könnte. Damals war sie sechzehn Jahre alt, so alt wie ihre Enkelin heute. Und das die ihr nun zuhört und nachfragt und mitfühlt, das tut ihr gut.

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