SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Jeden Tag benutze ich Dinge und lege sie wieder achtlos zur Seite, ich begegne Menschen auf der Straße und merke nicht auf ihre Gesichter, manchmal komme ich mir selbst wie ein kleines unscheinbares graues Teil in einer großen grauen Masse vor. Dabei: Selbst alltägliche Gebrauchsgegenstände haben ihre eigene, besondere, unverwechselbare Form. Zugegeben - man muss das entdecken. Und das ist nicht unbedingt einfach.
Skeptisch blickt mein Sohn auf ein riesiges Bild mit gefühlt tausend Suppendosen der Marke Campbell. Andy Warhol hat sie 1962 als Siebdruck auf zwei mal drei Meter gebannt. Die Erläuterungen der Führung können seine Zweifel an diesem Werk nicht ausräumen. „Das sagt mir gar nichts," stellt der junge Mann klar. Ich informiere ihn, dass er mit seiner Haltung nicht allein ist. Als der Millionenerbe und Kunstliebhaber Gunter Sachs als erster in Deutschland Bilder von Andy Warhol ausstellte, verkaufte er kein einziges Bild. Gunter Sachs kaufte daraufhin selbst, seine Erben dürfen sich jetzt darüber freuen. Die Sammlung brachte Millionen ein.
Die Führerin mahnt: „Bitte nicht zu nah rankommen, das sind wertvolle Bilder". In der Tat. „Jede Dose ist anders, das ist spannend" sagt die Führerin. Meinem Sohn ist deutlich anzusehen, dass er alles mögliche spannend findet, nicht aber diese Dosen. Und doch: Ich finde es interessant, dass Andy Warhol das Kunstvolle in alltäglichen Dingen entdeckt. Eine Dose, die ich achtlos öffne, leere und wegwerfe, adelt er durch seinen Blick. Er schaut sie genau an, gestaltet sie. „Vielleicht sind wir von viel mehr Kunst umgeben, als wir denken", meine ich. Mein Sohn schaut mich mitleidig an. „Warhol hat ja nicht nur Dosen gemalt", gebe ich zu bedenken. „Auch Menschen, Gunter Sachs zum Beispiel. Er hätte auch dich malen können, dann würdest du heute im Museum hängen oder bei Sothebys für Millionen versteigert werden. Ich glaube, es kommt auf den Blick an! Mag sein, für andere bist du nur ein Mensch unter 7 Milliarden, aber für den Kennerblick bist du ein Kunstwerk. Glücklicherweise eins, das ich umarmen darf - es wäre ja auch sehr schade, wenn du ständig mit einem Absperrband umgeben wärst. Mir scheint: Warhol verschafft uns eine Ahnung, wie Gott uns und die Welt anschaut. Er sieht das Kunstwerk in Menschen, aber auch in Dingen. „Siehe, es ist sehr gut", sagt Gott bei der Schöpfung. Vielleicht hat das auch Andy Warhol inspiriert. Er hat hin gesehen." „Aha", meint mein Sohn und betrachtet eine überdimensionale Kellogs-Packung, made by Andy Warhol. „Ich habe Hunger." Immerhin, Kunst kann Appetit machen. Auf Handfestes. Manchmal auf mehr Kunst. Das Plakat mit den Campbell-Suppendosen hänge ich in die Küche. Es gibt mehr als den grauen Alltag. Gott sei Dank!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13237
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