SWR2 Wort zum Tag

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16. Straßentheaterfestival in Jerusalem. Plakate und Handzettel kündigen ein „Schalks-Stück" an. Es trägt den Titel „Der 'ungerechte' Verwalter", wobei das Wort „ungerecht" in Anführungsstriche gesetzt ist. Inszeniert hat es der „Skandal-Regisseur" Jeschua, Sohn des Joseph aus Nazareth. So könnte ich mir Jesus und seine Gleichniserzählungen heute vorstellen; heute würde Jesus vielleicht nicht Geschichten erzählen, sondern Straßentheater machen, um seine provozierende Botschaft zu „verkünden". Und was gäbe es dann zu sehen? Vielleicht dies: Szenen aus dem Alltag eines Handelsbüros. Hauptperson ist ein etwas unorganisiert wirkender, aber durchaus sympathischer Buchhalter. Man traut ihm kaum zu, dass er seine Arbeit zuverlässig bewältigt, aber er hat Humor. Einige Kollegen schwärzen ihn beim Chef an, um ihn los zu werden. Dem Chef kommt die Mobbing-Aktion gerade recht, denn er misstraut dem jungen Angestellten schon länger. Kurzerhand lässt er ihn in seinem Büro vorstellig werden, um ihn zu feuern. „Wenn schon, denn schon!", denkt sich der Buchhalter. Er bestellt die Kreditnehmer seines Chefs zu sich und vermindert eigenmächtig ihre Schuldscheine. „Die Zinsen, die mein Chef von euch fordert, sind ohnehin reiner Wucher", erklärt er den verdutzten Schuldnern. Während der Aufführung tobt das Publikum: „Was soll das? Wo bleibt die Moral von der Geschichte? Bestraft den Betrüger!", schreit einer. Und die Moral kommt - im letzten Akt, doch ganz anders als erwartet: Nun - so stelle ich mir das „Skandaltheater" des Jesus von Nazareth vor - befinden wir uns in einem Gerichtssaal. Der „betrügerische" Büroangestellte wird dem Ortsrichter vorgeführt - und wird freigesprochen, im Namen der Gerechtigkeit. Jesus hatte gewiss nicht das Interesse, mit seiner provozierenden Gleichniserzählung zu eigennützigen Betrügereien aufzurufen. Er beschreibt hier auch nicht die Rache des kleinen Mannes. Jesus klagt ein Finanzsystem an, in dem man als Kreditnehmer nur verlieren kann. Er verurteilt Schuldensog und Wucherzinsen und ein gnadenlos auf die Maximierung von Gewinnen und Renditen getrimmtes Unternehmen. Er beschreibt die Geschichte eines Aussteigers, eines Menschen, der - selbst Opfer geworden - die rauschenden Träume von der wunderbaren Vermehrung des Buchgelds durchkreuzt - mit einem anarchistischen Handstrich.

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