SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

„Immer wenn ich diesen Baum anschaue, erinnert er mich an das Kriegsende", hat der alte Mann gesagt. Er hat auf den Baum mitten auf dem Dorfplatz gezeigt. „Hier hat sich früher das Leben abgespielt. Ach, mit diesem Baum verbinde ich mein ganzes Leben."
Er machte eine Pause und ging dann langsam an seinem Stock zur Bank unter dem Baum. „Hier habe ich in meiner Kindheit gespielt. Mit meinen Freunden. Damals war der Baum noch jung. 1918 zum Kriegsende hatte ein Bauer ihn gepflanzt. Als Erinnerung an seine Söhne, die in Frankreich gefallen waren. Ein Mahnmal, dass solche Zeiten sich nicht wiederholen müssen. Ein Zeichen, dass wir friedlich miteinander leben sollen."
Inzwischen hatten wir uns auf die Bank unter der Friedenslinde gesetzt. Ich habe nicht richtig gewusst, was ich sagen sollte. Und es war vielleicht auch einfach besser zu schweigen und dem alten Mann zuzuhören.
„Gut 20 Jahre später ist das Ganze wieder von vorne losgegangen. Da fing dann der 2. Weltkrieg an. Es gibt ja immer Menschen, die nicht dazu lernen. Jetzt im Alter kann ich das so kritisch sagen. Damals bin ich auch auf die Parolen und Reden hereingefallen. Jetzt bin ich über 90 und sehe vieles anders."
Mit seinem Stock hat er auf den Baum gezeigt. „Sehen sie genauer hin", hat er mich aufgefordert. „Dann sehen Sie, dass der Frieden unterbrochen wurde. Der Baum zeigt das ganze Leid des zweiten Weltkrieges."
Ich habe den Baum genauer betrachtet Und wirklich, der Krieg hatte auch den Baum gezeichnet. Die eine Hälfte des Baumes war tot. Dort grünte und blühte nichts mehr.
„Der Krieg hat auch vor unserem Dorf nicht halt gemacht", hat der alte Mann weiter erzählt. „Auch diese Friedenslinde wurde beschädigt. Aber sie hat es geschafft. Sie ist nicht eingegangen. Ich finde: Die kaputte Seite erinnert daran, dass es immer wieder Krieg gibt, weil Menschen sich den Frieden nicht gönnen. Und die heile, blühende, grüne Seite macht mir Mut, für den Frieden zu arbeiten. Hier im Kleinen in unserem Dorf. Und sonst auch. Sie zeigt mir, dass die Hoffnung nicht unterzukriegen ist." Mit diesen Worten hat der Mann sich zurückgelehnt und in das dichte Grün der Friedenslinde geschaut.
Und ich musste an ein Lied aus unserem Gesangbuch denken: „Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?[1]" Heute ist der 8. Mai, der Gedenktag des Kriegsendes. Ich finde, heute sollte man dieses Lied singen. Und hoffen, dass die Liebe bleibt - und der Frieden auch.


[1] Schalom Ben Chorin, Freunde, dass der Mandelzweig, EG 655

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12985
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