SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Vor Jahren hat mich der Schriftsteller Pascal Mercier mit seinem Roman „Nachtzug nach Lissabon" begeistert. Jetzt ist er mir mit seinem wirklichen Namen, Peter Bieri,  als Philosoph begegnet. Und sein jüngstes Buch „Wie wollen wir leben" löst in mir viele Fragen aus.[1]
„Wie wollen wir leben?" Beim Nachdenken über diese Frage stoße ich auf das Wort „Toleranz". Ich möchte als tolerant gelten - ob ich es immer bin, ist eine andere Frage. Und ich beanspruche, dass andere mich in dem tolerieren, wie ich lebe, was ich denke und glaube. Toleranz ist vor allem in der europäischen Aufklärung errungen worden. Niemand, auch keine religiöse oder politische Institution, darf Menschen in Glaubensfragen zwingen. Das ist heute so aktuell und wichtig wie eh und je, wenn Menschen weltweit unter der Gewalt von Fanatikern leiden. Auch in unserer Gesellschaft wird das Klima unduldsamer. Und selbst in den christlichen Kirchen werden Menschen von Mitchristen diffamiert und denunziert, die für sich in Anspruch nehmen, alleine zu wissen, was wahr und was falsch ist. Es geht bei dem, was wir mit „Toleranz" meinen, um den „Blick des Anderen", wie Peter Bieri sagt. Es gibt nicht nur eine Sicht der Dinge. Ein anderer Mensch hat eine andere Prägung als ich selbst; eine andere Weise, sein Leben zu deuten und zu gestalten und ihm Sinn zu geben. Und dies ist sein gutes Recht. Ist die Kultur, in der ich lebe und die mich prägt, die einzig denkbare, oder verdienen nicht auch andere Kulturen, dass ich ihnen offen und mit Respekt begegne, ihren Lebensformen, Ritualen, Wertvorstellungen? Ist das, was meinem Glauben heilig ist, mehr wert als das, was den Gläubigen anderer Religionen Halt gibt in ihrem Leben und Trost schenkt in ihrem Leid? Mich mit dem „Blick des Anderen" vertraut zu machen und auseinander zu setzen, lohnt sich immer. Es kann mein Leben sogar reicher machen. Bedeutet das aber, dass alles beliebig ist? Das denke ich nicht. „Toleranz" besagt: Ich bin grundsätzlich bereit, andere Menschen in ihrem Anderssein zu achten. Sie in ihrem Gewissen zu respektieren. Ihre Würde zu schützen. In manchen Kulturen und politischen Systemen mag das vielleicht anders gesehen werden. Auch hierzulande sehen das manche anders. Dies hinzunehmen, wäre eine falsche Toleranz. Juden, Christen und die Denker der europäischen Aufklärung haben lange um diese Fragen gerungen. Entstanden ist eine Humanität,, die durch Freiheit, durch Selbstbestimmung, durch ein Recht auf unantastbare Menschenwürde geprägt ist. Was das konkret bedeutet, darüber müssen wir uns immer wieder neu auseinander setzen. Aber diese Humanität muss grundsätzlich verbindlich sein und gegen alle Widerstände verteidigt werden.

 [1]Peter Bieri, Wie wollen wir leben?, St. Pölten-Salzburg (Residenz-Verlag), 4. Aufl. 2011.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12976
weiterlesen...