SWR2 Wort zum Tag

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Das vierte Gebot aus dem Dekalog, den zehn Geboten, kennen viele: „Ehre deinen Vater und deine Mutter." Sechs Worte nur, die aber eine gewaltige Wirkung entfaltet haben. Mit dem vierten Gebot ist oft Schindluder getrieben worden. Es diente zur Unterdrückung. Kinder sollten im Namen der Religion das tun, was die Eltern sagen. Und ja nichts hinterfragen.
Was wenige wissen: Das vierte Gebot fordert nicht nur, es liefert auch eine Begründung. Vollständig lautet es: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt." Hier wird begründet, warum ich, wie jeder andere auch, Vater und Mutter ehren soll. Um lange zu leben. Das vierte Gebot ist also ein Gebot, das eigentlich mir gilt - und nicht meinen Eltern. Es beschreibt, wie langes Leben für mich möglich sein kann. Nämlich indem ich nicht vergesse, wo ich herkomme, wer mich als kleines Kind umsorgt hat, wer für mich dagewesen ist, wenn Not am Mann war. Ohne Eltern gäbe es mich nicht. Die zehn Gebote sind Lebensregeln für Erwachsene. Und das vierte Gebot erinnert jeden Erwachsenen daran, dass er nicht immer erwachsen war. Dass er auch einmal ein Kind und damit hilfebedürftig war. Jetzt sind möglicherweise die Eltern hilfebedürftig und brauchen Kinder, die sich um sie kümmern. In einer neuen Übersetzung heißt es deshalb: „Respektiere und versorge deinen Vater und deine Mutter." In unserer heutigen Sprache heißt das: Generationenvertrag. Ein Vertrag, der brüchig geworden ist. Dass sich die Jungen um die Alten kümmern, das war lange Zeit ein brauchbares Modell. Heute gerät es aus den Fugen. Die Geburtenzahlen sinken. Ob gewollt oder ungewollt bleiben immer mehr Erwachsene kinderlos. Und die durchschnittliche Lebenserwartung steigt rapide an. Es fehlen Kinder, die ihre Eltern versorgen - und oft genug ist direkte Hilfe ja auch nicht möglich. Ich erlebe das in meiner eigenen Familie: Nur ein Bruder lebt in der Nähe der Eltern, meine anderen Geschwister sind weiter oder noch weiter entfernt zu Hause. Wie soll da Hilfe, wie soll da Pflege aussehen? Einfache Lösungen für die Probleme, die damit verbunden sind, gibt es keine. Deutlich aber tritt für mich der zweite Teil des vierten Gebotes in den Mittelpunkt: Es geht um das Leben-Können von Menschen. Und die Frage, wie wir eine Gesellschaft schaffen, die alle leben lässt. Das ist die Herausforderung, vor der wir heute stehen.

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