Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Lieber Gott, Du bist der Boss. Amen, Dein Rhinozeros"
So lautet das „Gebet eines Nashorns" von Joachim Ringelnatz. Ich sehe das betende Rhinozeros vor mir: Groß, plump und dick, mehr Masse als Geist. Da ist kein Platz für feinsinnige Gedanken oder sprachgewandte Frömmigkeit. Da kann beim Beten nicht mehr herauskommen als die schlichte, naive Feststellung: „Lieber Gott, Du bist der Boss, Amen. Dein Rhinozeros" Doch der Schein trügt. Die Aussage „Du bist der Boss", ist keineswegs selbstverständlich. Denn in der freien Wildbahn ist ein erwachsenes Nashorn selbst der Boss. Es hat keine natürlichen Feinde, dafür ist es zu stark und zu schnell. Nichts kann ihm etwas anhaben. Aber das Rhinozeros von Joachim Ringelnatz stellt fest: In der Savanne bin ich zwar der unangefochtene Chef, dennoch weiß ich: Du, Gott, bist der eigentliche Boss, auch von mir, dem starken Rhinozeros. Das klingt dann gar nicht mehr naiv, sondern nachdenklich und respektvoll. „Lieber Gott, Du bist der Boss, Amen. Dein Rhinozeros". Der witzige Reim, das kurze Gebet ist eine Fabel: Eine Tiergeschichte, die etwas über Menschen sagt. Nicht nur Nashörner sind versucht, sich für unangreifbar und unüberwindlich zu halten. Nicht nur das starke und schnelle Rhinozeros kann sich überall durchsetzen. Es gibt auch Menschen, die sich wie Nashörner rücksichtslos durch das Leben anderer pflügen, mit der Haltung „Mir kann keiner und mich können alle mal. Ich bin hier der Boss." Da hält uns Ringelnatz mit dem Nashorn den Spiegel vor: Die Starken dürfen nicht vergessen, wer wirklich der Boss ist, damit sie sich nicht überheben. Und die Schwachen müssen nicht verzweifeln angesichts der vielen Bosse, die ihnen gegenüberstehen. Denn es gibt einen Boss, der auf ihrer Seite und über allen Nashörnern steht.

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