SWR3 Gedanken

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Beim Aufräumen sind mir meine alten Märchen-Schallplatten in die Finger geraten, unter anderem die Abenteuer mit Jim Knopf. In Gedanken saß ich plötzlich wieder im Wohnzimmer meiner Eltern vor dem Plattenspieler. Als Kind hatte ich immer Angst vor dem „Scheinriesen Herr Tur Tur". Der hatte so eine gruselige Fistelstimme. Jim Knopf hat auch erst Angst vor ihm als er ihn von weitem sieht. Herr Tur Tur ist riesengroß und füllt fast den ganzen Horizont aus. Doch dann geschieht etwas Seltsames: je näher Herr Tur Tur kommt, desto kleiner wird er. Und als er bei Jim Knopf angekommen ist, ist er alles andere als ein Riese: er ist schmächtig, freundlich, und wirkt fast ein bisschen hilflos. Deshalb also auch der Titel „Scheinriese". Scheinriesen, die kenne ich auch von woanders her: Probleme, die sich vor mir auftürmen und unüberwindbar scheinen. Zum Beispiel eine Prüfung, eine neue Aufgabe im Job oder wenn ich jemandem etwas Unangenehmes sagen muss. Ich habe schon oft erlebt, dass es sich mit solchen Problemen wie mit Herrn Tur Tur verhält: von weitem betrachtet scheinen sie riesengroß zu sein. Laufe ich weg vor ihnen, werden sie sogar noch größer. Stelle ich mich aber der Situation, betrachte ich sie genauer, beschäftige ich mich damit, dann kann es sein, dass sie ihren Schrecken verliert. Die Probleme verschwinden nicht, aber sie schrumpfen auf ein Maß, wo ich mich traue, sie anzupacken. Wenn es besonders gut läuft, kann es sogar so gehen wie bei Jim Knopf. Herr Tur Tur, der Scheinriese, zeigt ihm den Weg aus der Wüste. Ein Problem, das beim genauen Hinsehen seinen Schrecken verliert und sogar noch eine Tür öffnet für die Zukunft. Das ist der Stoff, aus dem gute Geschichten sind - und manchmal auch das richtige Leben.

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