SWR2 Wort zum Tag

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Teaser: Wer sich verletzlich zeigt, macht sich angreifbar. Darum ist es verständlich, dass sich Menschen vor Verletzlichkeit möglichst zu schützen suchen. Dennoch bleibt die Frage: Ist es wirklich erstrebenswert, sich so zu verhalten? 
Niemand möchte verletzt werden. Niemand möchte verletzlich sein. Das ist ein Ideal in unseren Tagen. Ich bin neulich auf einen Aufsatz gestoßen, in dem dieses Ideal in Frage gestellt wird. Die Autorin verwendet den Begriff „Herrschaft der Unverletzlichkeit" und erläutert ihn am Beispiel von Buchkatalogen. Zu den Gesichtern und Titeln darin schreibt sie: „Ohne den Schatten eines Zweifels, einer Bitte, einer Unsicherheit, ohne ein Spur von Trauer in ihrem Lächeln haben ihre Gesichter etwas Hartes und Unmenschliches. ... Schicksalsschläge welcher Art auch immer, die unerklärlich bleiben, unbeherrschbar, haben hier kein Recht, so wenig wie Einsamkeit, Trauer, Verletzungen, Ängste, alles Widersprüchliche in uns, und Schmerzen und Erkrankungen, die wir nicht in den Griff bekommen". (Hadwig Müller, „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein". Theologischer Versuch gegen eine Herrschaft der Unverletzlichkeit.) Wer sich verletzlich zeigt, macht sich angreifbar. Darum ist es verständlich, dass sich Menschen vor Verletzlichkeit möglichst zu schützen suchen. Dennoch bleibt die Frage: Ist es wirklich erstrebenswert, sich so zu verhalten? Dahin zu kommen, dass nichts mich erschüttern, nichts mich aus der Ruhe bringen, nichts mir Schmerzen verursachen kann? Verletzlich sind ja auch die Liebenden, die Suchenden, die Fragenden, Zweifelnden. Das Zusammenleben erfordert auf vielen Ebenen Menschen, die sich in der Liebe verletzlich machen. Sich hingeben an etwas oder jemanden, gefährdete Menschen schützen, sich für Gerechtigkeit engagieren - auch heute, in manchen Ländern, einer Diktatur entgegentreten: das alles erhöht die eigene Verletzlichkeit. Diese Hingabe ist es aber, die Leben neu erschließt, die eine ganz eigene Kraft entwickelt, eine Kraft, aus der Menschen gestärkt hervorgehen. Seine Verletzlichkeit nicht verbergen und nicht leugnen ist wahre menschliche Stärke, das schildern die Evangelien aus dem Leben Jesu in vielen Geschichten. Jesus macht sich immer wieder angreifbar. Im Angesicht von Pharisäern und Schriftgelehrten wendet er sich Kranken, Sündern und Außenseitern zu. Er weckt ihren Lebenswillen neu, beseitigt, was sie lähmt, holt sie hinein in das Leben mit den anderen. Die Schriftgelehrten macht er sich dadurch zu Feinden. Die Geheilten aber danken ihm, indem sie Gott preisen, dass er ihnen zu Hilfe gekommen ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12760
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